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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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schlief, und betrachtete das übermalte Foto, die zwei Menschen, ihre entstellten lächelnden Gesichter des Mittleren Westens. Sie muss sie hassen. Dann erinnerte er sich an die Bacons im Tate. Die Agonie der Affen.
    Und dann wollte er an etwas anderes denken, nämlich an den Tag der Beerdigung in London. Es war eine Erleichterung, daran zu denken. Der balsamweiche Samstag, der schier endlose Sommer. Er hatte den Zug genommen, von Freunden außerhalb Oxfords kommend. Der Bahnhof – Paddington – war leer, die langen, widerhallenden Bahnsteige zum Schweigen gebracht in dem wässrigen Licht, und auf den Straßen draußen dasselbe. Während die Revolverpresse ihre riesigen Monumentalschlagzeilen brachte. WIR TRAUERN! WIR LEIDEN! SIE WEINEN! LEB WOHL .
    Im Russell Hotel blieb er auf seinem Zimmer und schaute sich alles im Fernsehen an. Es war sowieso ein TV-Event – seine Reaktionen ergaben die Story. Über den Bildschirm kamen der Leichenzug, die Berge von Blumen und Kränzen, die Soldaten, die Totenbahre, die Queen, der Prince. Der grässliche Bruder. Die Jungen mit den perfekten großen Zähnen und dem zu weißen Augenweiß. Durchs offene Fenster hörte er, mit einem Windstoß hereingeweht, wie jemand sagte – eine Frau, vermutlich im Nebenzimmer, vorm Fernseher genau wie er –, »So was wird doch nie wieder passieren, oder?«, sagte sie, »das kannste nich oft sagen, oder? Total einzigartig, ja? Na ja, nich sie natürlich. Die war nich einzigartig. Die war ’ne Nudde. Ja, okay, vielleicht nich ’ne Nudde. Aber weißt schon.«
    In Amerika war es fünf Uhr morgens. Er fragte sich, ob wohl jemand wach war und vorm Fernseher saß.
    Und seine Reaktionen auf all das: Wie seltsam, eine königliche Familie zu haben. Sie war nie eine Schönheit. Was hat das alles gekostet? Tod durch Autounfall ist immer eine Spur trivial. Die Leute haben den Leichenwagen beklatscht. Was schreibt man in ein Kondolenzbuch? Eigentlich bemitleiden sie sich ja selber. Wie werden sie sich in einem Monat fühlen? In einem Jahr? Wir machen alles größer, um zu erkennen, ob wir richtig liegen. Irgendjemand – und das war es, was er letzten Endes aufschrieb, die Crux, die Literatur der verfehlten Eigentlichkeit – irgendjemand muss uns sagen, was wichtig ist, weil wir es nicht mehr wissen.
    Am nächsten Tag erfuhr er, dass die Frau seines Freundes in Oxford gestorben war. Ein Aneurysma. Urplötzlich. Ganz schnell und schmerzlos. Nur, keiner konnte Blumen schicken. Alle Blumen waren schon vergeben, was das Ganze furchtbar zu verstärken schien. »Wir Engländer. Wir haben wohl etwas über uns gelernt, nicht wahr, James?«, sagte sein Freund bitter, als sie vor dem Bahnhof von Oxford in seinem Auto saßen und auf die Ankunft weiterer Freunde warteten. Zu der anderen Beerdigung. Der realeren.
    »Was denn?«, fragte Wales.
    »Dass wir genauso dumm sind wie alle anderen. Genauso dumm wie ihr. Das ist uns nämlich alles neu, weißt du. Das wussten wir eigentlich gar nicht, bis jetzt.«
    Warum ihm all das wieder einfiel, konnte er nicht sagen. Normalerweise passierte das nicht, wenn er über irgendetwas geschrieben hatte. Allerdings war ihm der Vortrag zum Thema »Verfehlte Eigentlichkeit: wie wir die Bedeutung der Dinge entdecken, die wir sehen« leicht gefallen. Darin hatte er die Geschichte, wie die Frau seines Freundes starb, zum Zweck des Kontrasts noch einmal erzählt. Und dann war Jena auf der Bildfläche erschienen, und sie hatten angefangen, sich zu beeilen.
    Vom Fenster aus beobachtete er den kleinen Keil Grünanlage zwischen dem Hintereingang des Hotels und dem Drive, selbst so spät immer noch dicht vor Verkehr. Taxis rauschten vorbei, ihre gelben Dachlichter zeigten an, dass sie frei waren. Ein Jogger in Grellorange hüpfte allein über den Betonstrand, der sich zum Lincoln Park hochschwang. Ein Mann mit zwei Weimaranern war stehen geblieben, um Brotkrümel auf den Parkbänken zu verstreuen. Alle schickten lautlose Atemzüge in die Nacht hinaus.
    Draußen auf der kalten Avenue gingen sie in ihr Lieblingsrestaurant. Nicht weit – Walton Street. Sie ging gern immer wieder an denselben Ort, bis sie ihn über hatte und ein für alle Mal aufgab. Der Wind war böig. Die Lichter auf der Michigan Street glitzerten. Der Verkehr summte, hatte aber nachgelassen. Die Häuserschlucht wirkte festlich, ein weißer Hintergrund aus Nachtlicht, und der verblüffende Halbmond fast verloren in dunstiger Ferne. Ein Kiel Schnee war an die Bürgersteige

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