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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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sich zu haben, ein Buch zu lesen. Na bitte, ein reiner Gedanke.
    »Wenn ich dich etwas Wichtiges frage«, sagte Jena, »bist du dann auch nicht schockiert?« Sie hielt seinen Arm, wurde aber langsamer auf dem Bürgersteig, immer noch vor dem Buchladen.
    »Ich würde es versuchen«, sagte Wales und schaute sie liebevoll an. Das ähnelte ihr gar nicht, ihn um etwas anzugehen. Aber es war gut. Neu.
    »Wenn ich dich bitten würde, meinen Mann umzubringen, würdest du es tun?« Jena schaute zu ihm hoch und blinzelte. Ihre Haselnussaugen waren weit offen und schwammen, aber trocken. Zwei dunkle Scheiben, weiß umrandet, die zu wachsen schienen. Ihr Gesicht konzentrierte sich auf ihn. »Für mich? Wenn ich dich lieben würde? Wenn ich mit dir fortginge? Eine Zeit lang zumindest?«
    Genau in diesem Augenblick überlegte Wales, wie sie wohl auf andere wirkten. Ein gut aussehender großer Mann in einem schweren Kamelhaarmantel. Ohne Hut, etwas Grau im Haar. Glänzend polierte schwarze Schuhe aus Deutschland. Und Jena, in einem Zobelparka und einer Wollhose. Teure, schwere Handschuhe. Teure Stiefel. Sie sahen gut zusammen aus, selbst auf der kalten Straße. Sie gaben ein Paar ab. Sie konnten verliebt sein.
    »Nein, ich glaube nicht«, sagte Wales.
    Jena drehte sich weg und warf einen kurzen Blick zurück auf die Avenue, wo ein Fahrer auf die Bremse getreten und über die vereiste Fahrbahn geschlittert war. Zwei Polizisten in einem weiß-blauen Streifenwagen warteten am Straßenrand und beobachteten das Auto, das seitlich mitten auf der Kreuzung zum Stehen kam. Vielleicht hatte sie das Gefühl, jemand folge ihr. »Wir tun doch gerade genau das, was wir wollen, oder?«, sagte sie, abgelenkt von dem Zwischenfall.
    »Ich jedenfalls«, sagte Wales.
    Sie sah ihn an und lächelte verkniffen. Er wusste nie, was sie dachte. Vielleicht ähnelte sie ihren Eltern mehr, als sie glaubte. »Das habe ich einfach so gesagt«, meinte sie und räusperte sich. »Du solltest mich nicht so ernst nehmen.«
    »Wunderbar«, sagte Wales und lächelte.
    »Dann glaub es halt«, sagte Jena harsch. »Jeder kommt vor jemand anderem dran. Irgendwer kommt immer danach.« Sie hielt inne, als wollte sie noch mehr dazu sagen, ließ es aber. »Komm, essen wir was«, sagte sie und setzte sich in Bewegung, auf die Glastüren des Restaurants zu, die sich in diesem Moment erneut zur Straße hin öffneten.
    Beim Essen redete sie über alles, was ihr gerade so einfiel. Sie sagte, sie sollten heute Nacht noch tanzen gehen, sie kenne einen Laden, nur eine Taxifahrt entfernt. Schwarzes Viertel. Sie fragte Wales, ob er überhaupt gern tanze. Ja, sagte er. Sie fragte ihn, ob er Blues möge, und er sagte ja, obwohl das nicht unbedingt stimmte. Jetzt sah sie blass aus in ihrem schwarzen Rollkragen mit der einreihigen Kette aus kleinen Perlen. Sie trug ihren Ehering und einen großen eckigen Smaragdring, den er noch nie gesehen hatte. Sie tranken Rotwein und aßen Stubenküken und hielten Händchen über den kleinen Tisch am Fenster, wie ein Liebespaar. Irgendwer kannte Jena bestimmt hier, aber es war ihr egal. Sie war leichtsinnig aufgelegt. Tat doch keinem weh.
    Sie erzählte von einem Roman, den sie gerade las und der sie interessierte. Er handelte von einem englischen Mädchen, das einmal in einem bedeutenden französischen Film die Rolle der Naiven gespielt hatte. Eine Weile war die Frau berühmt. Dann ging das eine oder andere schief. Irgendwann lebte sie dann in Prag, allein, älter, als Ex-Drogensüchtige. Jena konnte sich gut mit ihr identifizieren, sagte sie, und fand, ihre Geschichte hätte auch in Amerika spielen können. Irgendwie hätten ihre Eltern auch reingepasst.
    Danach erzählte sie von ihren kleinen Töchtern, die sie liebte, und dann noch von ihrem Mann, den er hatte umbringen sollen und der, nett gesagt, ein mäßiger Liebhaber war, aber immerhin aufmerksam. Sie erzählte davon, wie sie sich mal in München eine Hornhautverletzung am Auge geholt hatte, wie schrecklich das gewesen war – einen Augenarzt mit amerikanischer Ausbildung zu finden, einen, der Englisch sprach, einen, der alles ordentlich sterilisierte, einen, dessen Sprechstundenhilfen nicht Junkies oder Bluter waren. Er begriff, dass nichts, was er jetzt hätte tun oder sagen können, irgendeine Wirkung auf sie gehabt hätte. Aber was wäre sie auch für ein Mensch, wenn er sie so leicht beeinflussen könnte. Und es war ein Vergnügen, mit ihr zusammen zu sein. Er fühlte sich wunderbar, wie

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