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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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Haarschnitt vorteilhaft freilegte. Er war vielleicht vierzig – jünger als ich – und sah am ehesten nach einem Berufsoffizier aus. Einem Major. Ich dachte an einen Brief, den mir Beth gezeigt hatte, von Mack an sie, darin stand der Satz: »Ich will dich überall küssen. Jawohl. Alles Liebe, Macklin.« Beth hatte die Augen verdreht, als sie ihn mir zeigte. Bei einer anderen Gelegenheit hatte sie mit Mack telefoniert, während wir zusammen nackt im Bett lagen. Auch dabei hatte sie andauernd die Augen verdreht, egal, was er sagte – es ging, wie ich mitbekam, um irgendwelche Schwierigkeiten, die er bei der Arbeit hatte. Einmal fingen wir sogar mit dem Sex an, während sie mit ihm sprach. Ich konnte seine kleine, summende, schmollend klingende Stimme hören. Aber das war jetzt vorbei. Alles, was Beth und ich getan hatten, war vorbei. Nur das hier war übrig – ein paar Augenblicke in der großen Bahnhofshalle, die mir aber trotz allem korrekt, robust, fast klassisch vorkamen, so als zählte allein dieses Später, und die damit verbundenen früheren, vorübergehend leidenschaftlichen, aber jetzt fernen Situationen hätten es lediglich vorbereitet.
    »Haben Sie eine Wohnung gekauft?«, fragte ich und spürte, wie mit einem Mal eine große Leere in mir aufbrach, die sich schnell ausbreitete. Was für eine alberne Bemerkung.
    Macks Augen ruckten zu mir, und seine ungerührte Miene, der ich einen Sinn unterlegt hatte – Resignation –, nahm allmählich einen anderen Ausdruck an. Ich merkte das an einem kleinen Spalt, der auf seinem Kinn erschien.
    »Ja«, sagte er und ließ seinen Blick auf mir ruhen.
    Die Menschen schoben sich an uns vorbei. Um mein Gesicht schwebte das schwere, warm wirkende Parfüm einer Frau. Musik setzte in der Rotunde ein und gab dem Augenblick etwas Erstickendes, Lärmendes: Morgen, Kinder, wird’s was geben …
    »Ja«, sagte Mack Bolger erneut, emphatisch, spuckte die Worte zwischen seinen großen, geraden, weißen, nahezu makellosen Zähnen hervor. Er war auf einer Farm in Nebraska aufgewachsen, mit einem Football-Stipendium auf ein kleines College in Minnesota gegangen, hatte dann einen BWL-Abschluss in Wharton gemacht und sich etwas aufgebaut. Dieses ganze Leben, diese Erfahrung kam jetzt ins Spiel, in Form von Selbstkontrolle und Würde. Seltsam, dass ihn jemand als Hund bezeichnen konnte, denn das war er überhaupt nicht. Er war überaus bewundernswert.
    »Ich habe eine Wohnung an der Upper East Side gekauft«, sagte er und klapperte sehr schnell mit den Augenlidern. »Ich bin im September ausgezogen. Ich habe eine neue Arbeit. Ich lebe allein. Beth ist nicht hier. Sie ist in Paris, wo es ihr dreckig geht – hoffe ich jedenfalls. Wir lassen uns scheiden. Ich warte auf meine Tochter, die vom Internat kommt. Reicht das? Könnte Ihnen das reichen? Befriedigt es Ihre Neugier?«
    »Ja«, sagte ich. »Natürlich.« Mack war nicht wütend. Er war vielmehr … etwas, bei dem Wut nicht mitspielte oder jedenfalls seit langem nicht mehr, etwas wie Erschöpfung, wo die Worte, die man sagt, die einzigen wahren Worte sind, die man sagen kann . Ich glaube nicht, dass ich je in dieser Situation war. Für mich gab es immer eine Wahl.
    »Verstehen Sie mich?« Mack Bolgers dicke Sportlerstirn runzelte sich, als musterte er ein Wesen, das er nicht recht verstand, irgendeine Missgeburt, was ich vielleicht ja war.
    »Ja«, sagte ich. »Entschuldigen Sie.«
    »Na dann«, sagte er und wirkte peinlich berührt. Er sah weg, über die Menschenmenge aus wimmelnden Köpfen und Gesichtern, als hätte er gespürt, dass sich jemand näherte.
    Ich schaute dorthin, wo er hinzuschauen schien. Doch niemand näherte sich. Keine Beth und keine Tochter. Niemand. Vielleicht, dachte ich, war das alles eine Lüge, oder vielleicht hatte ich sogar einen Augenblick lang das Bewusstsein verloren, und das war gar nicht Mack Bolger, und ich träumte das alles.
    »Meinen Sie, Sie könnten jetzt irgendwo anders hingehen?«, sagte Mack. Sein großes braun gebranntes, attraktives Gesicht schaute bittend und erschöpft drein. Einmal hatte Beth gesagt, Mack und ich sähen uns ähnlich. Aber das taten wir nicht. Das war nur ihre Fantasie gewesen. Ohne mich noch einmal richtig anzuschauen, sagte er: »Es fiele mir schwer, Sie meiner Tochter vorzustellen. Das können Sie sich doch denken.«
    »Ja«, sagte ich. Ich sah mich wieder um, und diesmal entdeckte ich ein hübsches blondes Mädchen, das in der Menge stand und uns aus einigen

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