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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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gelernt, in den Siebzigern. Wir haben uns immer als Glückspilze betrachtet und sind dabei in keiner Weise außergewöhnlich in unseren Zielen oder Leistungen. Wir sind ganz einfach die Südstaatler, deren robuste Familien sie immer unterstützt haben, die das Glück hatten, eine gute Ausbildung zu bekommen, und mehr oder weniger nach Hause zurückgekehrt sind, bereit, ihren Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Irgendeiner muss diesem grundlegenden menschlichen Antrieb folgen, fanden wir, sonst gibt es irgendwann kein solides Fundament für ein erträgliches Leben mehr.
    Einen Tag nach dem Ende des alten und dem Anfang des neuen Jahrtausends sagte Sallie zu mir – es war beim Lunch im Le Périgord an der Esplanade, unserem Lieblingsrestaurant: »Erinnerst du dich eigentlich noch«, sie hatte darüber nachgedacht, »an dieses erste kleine Aquarell, das wir gekauft haben, in Old Saybrook? Das Segelbootsegel in Schräglage, das man kaum erkennen konnte vor dem ganzen weißen Himmel. In dem kleinen Laden an der Brücke?« Natürlich erinnerte ich mich noch. Es hängt in meiner Kanzlei am Place St. Charles, ein Relikt aus Jugendzeiten, das mir sehr viel bedeutet.
    »Was ist damit?« Unser Tisch stand im schattigen Garten des Restaurants, wo es süß nach irgendeinem Vanillestrauch duftete. Kleine wilde Papageien flatterten aus den Zweigen der immergrünen Eiche auf und zwitscherten davon. Wir aßen kalte Krabbensuppe.
    »Also«, sagte sie. Sallie hat helle, fast animalisch blaue Augen und eine durchscheinende nordeuropäische Karamellhaut. Seit Jahren setzt sie sich nicht mehr der Sonne aus. Ihr Haar ist einfach geschnitten und in der Mitte gescheitelt, wie bei einer Bergman-Figur aus den Sechzigern. Sie ist siebenundvierzig und wahnsinnig schön. »Es ist vollkommen banal«, fuhr sie fort. »Aber woher wussten wir damals eigentlich, dass wir Geschmack hatten? Mir kommt es im Grunde gar nicht so sehr darauf an, wie du weißt. Du hast in den meisten Dingen einen besseren Geschmack als ich. Aber warum waren wir uns so sicher, dass wir dieses kleine Bild später nicht grässlich finden würden? Erklär mir das. Und dass unsere Freunde es nicht sehen und uns hinter unserem Rücken auslachen würden? Kommen dir jemals solche Gedanken?«
    »Nein«, sagte ich, meinen Löffel über der Suppe. »Nie.«
    »Weil du sie nicht interessant findest? Oder weil wir sowieso irgendwann von selber auf einen besseren Geschmack gekommen wären?«
    »Beides irgendwie«, sagte ich. »Es ist egal. Unser Geschmack ist in Ordnung und wäre immer in Ordnung gewesen. Ich habe das kleine Boot bis heute in meinem Büro hängen. Alle, die daran vorbeikommen, bewundern es, das passiert andauernd.«
    Sie lächelte nach innen, erfreut. »Natürlich geht es nicht um unsere Freunde. Wenn wir Bilder mit traurigen Clowns mögen oder Schondeckchen auf unsere Sitzmöbel legen würden, hätten wir dann ein anderes, ein schlechteres Leben? Das frage ich mich«, sagte sie und starrte auf ihr aufgereihtes Besteck, Messer und Löffel. »Es beschäftigt mich einfach. Das Leben ist so zerbrechlich, die Art und Weise, wie wir es erfahren.«
    »Was meinst du damit?« Ich musste bald zur Arbeit zurück. Wir haben sowieso nur noch wenige Freunde. Das ist normal.
    Sie legte die Stirn in Falten und kratzte sich mit dem Zeigefinger am Hinterkopf. »Es geht darum, dass du nur einen kleinen Teil zu ändern brauchst, und alles ändert sich.«
    »Ein Stern verirrt sich außer der Reihe, und plötzlich gibt es keinen Großen Wagen mehr?«, sagte ich. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass du das meinst. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du dir Sorgen machst, nur weil die Dinge in deinem Leben hätten anders verlaufen können.« Ich gebe gern zu, dass mich das amüsierte.
    »Das hast du ziemlich oberflächlich ausgedrückt.« Sie schaute auf ihre noch unberührte Suppe hinunter und stippte den Rand ihres Löffels hinein. »Aber doch, das meine ich.«
    »Es stimmt aber nicht«, sagte ich und wischte mir den Mund ab. »Es wäre immer noch, was es ist. Der Große Wagen oder was immer du willst. Du würdest einfach den abgestürzten Stern ignorieren und dich auf die anderen konzentrieren, die passen. Unser Leben wäre genauso gelaufen, trotz der schlechten Kunst.«
    »Du bist der Anwalt, nicht wahr?« Das war gönnerhaft, aber ich glaube nicht, dass sie es so gemeint hatte. »Du ignorierst einfach, was nicht passt. Aber es wäre nicht genauso gelaufen, da bin ich mir

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