Eine Vielzahl von Sünden
hundertprozentig sein sollten«, sagte ich, »werden sie es bald wieder sein. Du wirst der Welt schon bald wieder entgegentreten wie immer. Und umso besser wird es uns gehen.«
»Ich weiß«, sagte sie. »Tut mir Leid wegen dem Welpen.«
»Mir auch«, sagte ich. »Aber wir haben das Richtige getan. Wahrscheinlich wird es ihm gut gehen.«
»Und es tut mir Leid, dass mich die Dinge manchmal bedrohen«, sagte Sallie. »Es sollte nicht so weit kommen, und dann kommt es doch so.«
»Die Dinge bedrohen uns alle«, sagte ich. »Keiner kommt ungeschoren davon.« So dachte ich damals über diese ganzen Fragen. Wir waren in Sichtweite unseres Hauses. Ich wollte eigentlich nicht mehr über das alles reden.
»Liebst du mich?«, sagte Sallie ziemlich unerwartet.
»O ja«, sagte ich. »Das tue ich. Ich liebe dich sehr.« Mehr sagten wir nicht.
Vor einer Woche habe ich in einem der Journale für Gerichtsanwälte, die glauben, sie müssten ihre Artikel dadurch rechtfertigen, dass sie regelmäßig auch noch geistreich gemeinte Aphorismen absondern – die schaue ich mir ja auch nur aus Spaß an –, zwei Dinge gelesen, die ich wirklich interessant fand. Diese Sprüche werden immer so ausgewählt, dass sie einen um die Ecke gedachten Kommentar zum Gesetz darstellen, und oft sind sie urkomisch und voller Wahrheit. Der erste lautete so: »Wissenschaftler sagen voraus, dass in fünftausend Jahren die Erde von der Sonne angezogen und mit ihr kollidieren wird.« Dann ging es ungefähr so weiter: »Es ist also nicht zu früh, Ihre Berufshaftpflichtversicherung zu erhöhen«, irgendein Schwachsinn dieser Art. Aber ich muss zugeben, bei der Meldung über unseren Planeten fühlte ich mich seltsam unwohl – als hätte ich durch die Unvermeidlichkeit dieses weit in der Zukunft liegenden Endes etwas Wichtiges zu verlieren. Ich kann jetzt gar nicht sagen, was dieses Wichtige sein könnte. Niemand kann fünftausend Jahre im Voraus denken. Und ich hätte auch nicht geglaubt, dass man in dieser Hinsicht etwas fühlt , höchstens vielleicht etwas Religiöses. Bloß fühlte ich etwas, und ich bin alles andere als ein religiöser Mensch. Was ich fühlte, ähnelte ziemlich der Empfindung, die in der alten Redensart »Gerade ist jemand über dein Grab gegangen« anklingt. Irgendjemand, so schien es, war gerade über mein Grab gegangen, fünftausend Jahre von heute entfernt, und besonders gut fühlte es sich nicht an. Ich tat mir Leid, weil ich überhaupt so etwas dachte.
Den anderen Spruch fand ich auf den letzten Seiten, hinter dem Anzeigenteil, und da stand, dass Astronomen den bislang ältesten Stern entdeckt hätten, der ihrer Ansicht nach 50 Millionen Lichtjahre entfernt war; sie hätten ihn, aus offensichtlichen Gründen, den Millennium-Stern genannt. Die eigentliche Jahrtausendwende war ja vorübergegangen, ohne irgendwelche nennenswerten Veränderungen zu bringen, fand ich jedenfalls. Als der Wissenschaftler, der ihn entdeckt hatte, gebeten wurde, die chemische Zusammensetzung dieses Millennium-Sterns zu beschreiben – den man natürlich nicht einmal sehen konnte –, da sagte er: »Puh, tja, ich weiß nicht. Man kann einfach nicht so weit in der Zeit zurückgehen.« Und ich dachte – in meinem Büro sitzend, umzingelt von den Akten zum Fall Brownlow-Maisonette, während die heiße Sonne von New Orleans durch genau das Fenster hineinstrahlte, das ich damals vom Wagen aus sah, nachdem Sallie und ich den Welpen seinem Schicksal übergeben hatten –, ich dachte: Zeit? Warum sagt er Zeit, wenn er doch Raum meint? Und wieder beschlich mich dieses seltsame Gefühl, dass überall in der Zeit so vieles passiert und wir nur einen lachhaft unbedeutenden Bruchteil davon erfahren.
Die Tage, die unserem Besuch im Tierheim folgten, waren ereignisreich. Sallies Kollege Jerry DeFranco starb natürlich. Und obwohl er Aids hatte, starb er von eigener Hand, entmutigt, in seiner kleinen Mansarde in der Kerelerec Street, spät in der Nacht vor dem Marathon. Ich nehme an, er wollte, dass man sein Leben und seinen Tod als einen Triumph der Willenskraft über die unbarmherzigen Umstände ansah.
An einer anderen Front beschlossen die Brownlow-Berufungskläger sehr plötzlich und unerwartet, sich gütlich zu einigen, statt Jahre extrem hoher Anwaltsrechnungen und natürlich die (wenn auch geringe) Möglichkeit einer vernichtenden Niederlage in Kauf zu nehmen. Darauf hatte ich gehofft und betrachte es als einen Sieg.
Ansonsten verlief der Marathon wie
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