Eine Vielzahl von Sünden
geplant, und zwar auf der von Sallie geplanten Route. Ich war leider in St. Louis und verpasste alles. Am selben Nachmittag kam es zu einem Massaker in einem Fast-Food-Restaurant nicht weit vom Tierheim, und jemand, den ich kannte – ein schwarzer Anwalt –, wurde umgebracht. Außerdem wurden in dieser Zeit erste Vorfühl-Gespräche mit mir geführt, wegen eines Bundesrichterpostens, den ich ganz sicher nie kriegen werde. Solche Sachen werden immer über Monate und Jahre verschleppt, alle möglichen Leute werden verständigt, sie sollen sich bereithalten, wenn es irgendwann so weit ist, und dann wird der Falsche ausgewählt, aus falschen Gründen, wonach sich herausstellt, dass ohnehin alles schon lange feststand. Das Recht ist eine seltsame Berufung. Und New Orleans ist ein einzigartiger Ort. In jedem Fall bin ich viel zu liberal für die derzeitige Riege da oben in unserem Land.
Mehrere Leute riefen schließlich doch wegen des Welpen an, sie hätten meine Zettel gesehen, und ich verwies sie alle ans Tierheim. Ich bin ein-, zweimal herumgegangen und habe nach den Zetteln geschaut, und einige hingen immer noch da, neben den Ankündigungen vom Aids-Marathon, was mir ein Gefühl der Befriedigung gab, aber kein großes.
Jeden Morgen saß ich im Bett und dachte an den Welpen, wie er auf jemanden wartete, der an der langen Käfigreihe entlangkam und ihn dort allein vor sich hin starren sah und mitnahm. Aus irgendeinem Grund wollte ihn in meiner Fantasie nie jemand haben – weder ein autistisches Kind noch ein einsamer, mutloser älterer Mann, eine frisch Verwitwete oder eine junge Familie mit lauter Radaugören. Keiner davon. Wie ich es mir auch immer vorstellte, er blieb zurück.
Sallie sprach das Thema nicht wieder an, obwohl ihre Schwester am Dienstag anrief und sagte, sie kennte eine Frau namens Hester in Andalusia, die den Welpen nehmen würde, und dann stritten sich die beiden so erbittert, dass ich ans Telefon gehen und schlichten musste.
An manchen Nachmittagen, während die vorgesehenen fünf Wartetage verstrichen, dachte ich an den Welpen und fühlte mich wie der letzte Verräter, weil ich ihn ins Tierheim gebracht hatte. Dann wieder fand ich, wir hatten ihm eine bessere Chance gegeben, als er sonst bekommen hätte, allein auf der Straße oder bei seinen vorherigen Besitzern. Ich sah in ihm ganz sicher nie eine böse Kraft, die man entzaubern musste, oder eine Bedrohung von irgendetwas Wichtigem. Ich sehe das Leben nicht als etwas so Zerbrechliches. Er war, wenn überhaupt, nur ein Opfer der Grenzen, die wir alle unserem Mitgefühl und unserer Fähigkeit setzen, mit Uneindeutigem leben zu können. Wer weiß, vielleicht hatte Sallie auch Recht – vielleicht war der Welpe eine Botschaft, die uns hinterlassen worden war, als Anregung zum Nachdenken: etwas, das jemand über uns dachte, oder etwas, das jemand uns unbedingt mitteilen wollte. Wer oder was oder in welcher Hinsicht das so sein könnte, keine Ahnung. Wobei wir alle natürlich irgendwie in das Leben der anderen verwickelt sind, ob wir das genau überschauen oder nicht.
Am Donnerstagabend, am Vorabend des fünften Tages, hatte ich noch einmal einen merkwürdigen Traum. Träume bedeuten immer irgendetwas nahe Liegendes, und deshalb versuche ich, so gut ich kann, mich nicht an meine zu erinnern. Aber aus irgendeinem Grund war es diesmal anders, und ich träumte wieder von meinem alten verstorbenen Kanzleipartner, Paul Thompson, und von seiner netten Frau Judy, einer hübschen, drallen Blondine, die Operngesang studiert und in mehreren Stadttheaterproduktionen die Koloraturrolle gesungen hatte. In meinem Traum hielt Judy Paul eine bombastische Predigt wegen einer Liste mit Frauennamen, die sie gefunden hatte, Frauen, mit denen Paul etwas gehabt, die er sogar geliebt hatte. Sie sagte ihm, er sei ein furchtbarer Mann, der ihr das Herz gebrochen habe, und sie würde ihn verlassen (das war auch tatsächlich passiert). Auf ihrer Liste – die ich plötzlich, wie durch einen Nebel, sehen konnte – stand auch Sallies Name. Und als ich ihn dort sah, fing mein Herz an zu klopfen, klopfen, klopfen, bis ich im Dunkeln aufrecht im Bett saß und laut sagte: »Wusstest du, dass dein Name auf der verdammten Liste steht?« Draußen auf unserer Straße hörte ich jemanden Trompete spielen, eine ganz langsame und inbrünstige Version des Kirchenliedes »Nearer Walk With Thee«. Und Sallie lag da neben mir, im Tiefschlaf. Ich wusste natürlich, dass sie es getan hatte
Weitere Kostenlose Bücher