Eine Vielzahl von Sünden
und beobachtet den Könner-Hang. Eine glatte, weite Schneeweide, eingerahmt von wunderschönem Nadelholzgestrüpp. Mehrere Skiläufer zickzacken nach unten und tun alles, um schick zu wirken. Vor Jahren war sie hier mit ihrem High-School-Freund Eddie, alias »Der Schnelle Eddie«, was er in mehrfacher Hinsicht war. Sie liefen beide ungern Ski und verließen das Bett auch gar nicht erst, um es auszuprobieren. Jetzt erinnert das Skilaufen sie an Golf. Ein Golfplatz aus Schnee.
»Vielleicht nehme ich die Mädchen aus der Schule und lade uns alle nach Venedig ein«, fährt Esther fort. »Bestimmt wäre Roger erleichtert.«
Faith hat Roger und die Mädchen auf dem Anfängerhang entdeckt. Blau, grün und gelb sind ihre Anzüge jeweils. Er gibt seinen Töchtern Zeichen, detaillierte Anweisungen zur Ski-Etikette. Wie jeder andere Dad auch. Sie glaubt, ihn lachen zu sehen. Es fällt schwer, in Roger lediglich ein durchschnittliches Elternteil zu sehen.
»Sie sind zu jung für Venedig«, sagt Faith und legt ihre kleine gut aussehende Nase an die überraschend warme Fensterscheibe. Von draußen hört sie das Scharren einer Schneeschaufel und gedämpfte Stimmen.
»Na, dann nehme ich vielleicht dich mit nach Europa«, sagt Esther. »Vielleicht können wir alle drei Europa machen, wenn Daisy mit dem Entzug fertig ist. Das hatte ich schon immer vor.«
Faith mag ihre Mutter. Ihre Mutter weiß, wie viel zwei und zwei ist, aber sie sucht immer nach Möglichkeiten, großzügig zu sein. Nur kann sich Faith kein Szenario vorstellen, bei dem sie, ihre großherzige Mutter und Daisy auf den Champs-Élysées oder dem Canal Grande zu sehen sind. »Das ist eine schöne Idee«, sagt sie. Sie steht neben dem Stuhl ihrer Mutter, schaut auf ihren Hinterkopf hinunter und hört sie atmen. Ihre Mutter hat einen kleinen Kopf. Das Haar ist dunkelgrau und kurz und spärlich und nicht besonders sauber. Sie hat sich einen sehr breiten, geraden Scheitel in der Mitte zugelegt. Ihre Mutter sieht aus wie die Dicke Frau im Zirkus, mit Nackenstütze.
»Ich habe gelesen, wie man hundert Jahre alt wird«, sagt Esther und ordnet die Karten auf dem Glastisch vor ihrem Bauch. Faith hat angefangen, an Jack zu denken, was für eine merkwürdige Sorte Fiesling er ist. Jack Matthews trägt immer noch die Lobb-Schuhe, die er sich auf dem College hat anfertigen lassen. Hässliche, prätentiöse englische Schuhe mit Lochmusterspitzen. »Du musst körperlich aktiv sein«, fährt ihre Mutter fort. »Und du musst Optimist sein, was ich bin. Du musst an Dingen dranbleiben, die dich interessieren, was ich mehr oder weniger kann. Und du musst mit Verlust gut umgehen können.«
Mit aller Konzentration versucht Faith, nicht darüber nachzudenken, wo man sie selbst nach diesem Maßstab wohl einordnen würde. »Willst du hundert werden?«
»O ja«, sagt ihre Mutter. »Du kannst dir das bloß nicht vorstellen, das ist alles. Du bist zu jung. Und schön. Und talentiert.« Keine Ironie. Ironie ist nicht die starke Seite ihrer Mutter.
Draußen hört man einen der Schnee schippenden Männer sagen, »Hi, wir sind der Wetterkanal«. Er spricht mit jemandem, der ihnen durch ein anderes Fenster von einer anderen Wohnung aus zuschaut.
»Kälter als der Schwanz vonnem Brunnengräber, aber garantiert«, sagt die Stimme eines zweiten Mannes. »Das ist die Vorhersage für heute.«
»Schwänze, Schwänze und nochmals Schwänze«, sagt ihre Mutter vergnügt. »Das ist es doch, oder? Das männliche Gerät. Das ganze Mysterium.«
»Ja, nach allem, was man hört«, sagt Faith und denkt an den Schnellen Eddie.
»Es waren aber alles Frauen«, sagt ihre Mutter.
»Wer?«
»All die Leute, die hundert geworden sind. Auch wenn man all die anderen Sachen richtig macht, eine Frau muss man außerdem sein, um zu überleben.«
»Es lebe die Frau«, sagt Faith.
»Genau. Wir sind die glücklichen Auserwählten.«
Dies wird das erste Weihnachten ohne Baum oder Mutter für die Mädchen. Obwohl Faith versucht hat, um diese Tatsache herumzuimprovisieren, indem sie Geschenke am Fuß des großen Plastik-Gummibaums angeordnet hat, der an einer der leeren weißen Wände des kleinen Wohnzimmers stationiert wurde. Der Baum war schon da. Sie hat ein paar Weihnachtskugeln mitgebracht, einen goldenen Stern und eine Lichterkette, die zu blinken verspricht. »Weihnachten in Manila« könnte vielleicht das Motto sein.
Draußen wird der Tag trübe. Faiths Mutter macht ein Nickerchen. Nach seiner Ski-Stunde ist
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