Eine Vielzahl von Sünden
Schneewittchen . Daisy hat ihnen beiden jeweils 50 Dollar geschickt.
»Wisst ihr«, sagt Faith, »ich erinnere mich, wie vor langer, langer Zeit mein Dad und ich und eure Mom in den Wald gegangen sind, um einen Weihnachtsbaum zu holen. Wir haben den Baum nicht gekauft, sondern selbst einen mit einer Axt geschlagen.«
Jane und Marjorie starren sie an, als hätten sie diese Geschichte irgendwo gelesen. Der Fernseher ist in diesem Zimmer nicht eingeschaltet. Vielleicht, denkt Faith, begreifen sie es nicht, wenn jemand mit ihnen redet – eine Live-Handlung, die ihre eigenen, einzigartigen Anschlussprobleme aufweist.
»Wollt ihr die Geschichte hören?«
»Ja«, sagt Marjorie, die Jüngere. Jane sitzt aufmerksam und still auf dem grünen dänischen Sofa. Hinter ihr an der kahlen weißen Wand hängt ein gerahmter Druck von Bruegels Jäger im Schnee , was immerhin auch etwas Weihnachtliches hat.
»Also«, sagt Faith, »eure Mutter und ich – wir waren erst neun und zehn – suchten den Baum aus, der unbedingt unser Baum sein sollte, aber Dad sagte nein, der Baum wäre ja viel zu groß, um in unser Haus zu passen. Wir sollten uns einen anderen aussuchen. Aber wir sagten beide: ›Nein, der hier ist doch perfekt. Der ist der beste.‹ Er war grün und hübsch und hatte die perfekte Weihnachtsbaumform. Also fällte Dad ihn mit seiner Axt, und wir zerrten ihn durch den Wald und banden ihn auf unserem Auto fest und brachten ihn nach Sandusky zurück.« Beide Mädchen sind jetzt schläfrig. Es hat zu viel Aufregung gegeben, oder nicht genug. Ihre Mutter ist auf Entzug. Ihr Vater ist ein Arschloch. Sie sind an irgendeinem Ort namens Michigan. Wer wäre da nicht schläfrig?
»Wollt ihr wissen, was danach passiert ist?«, sagt Faith. »Als wir den Baum nach drinnen geschafft hatten?«
»Ja«, sagt Marjorie höflich.
»Er war wirklich zu groß«, sagt Faith. »Er war viiiel zu groß. Er konnte in unserem Wohnzimmer nicht mal aufrecht stehen. Und er war auch zu breit. Und unser Dad wurde furchtbar wütend auf uns, weil wir aus purem Egoismus darauf bestanden hatten, einen wunderschönen lebendigen Baum zu töten, und weil wir nicht auf ihn gehört hatten und dachten, wir wüssten Bescheid, bloß weil wir wussten, was wir wollten.«
Plötzlich fragt sich Faith, warum sie den beiden unschuldigen Schätzchen, die nicht noch eine Lektion brauchen, diese Geschichte erzählt. Deshalb bricht sie einfach ab. In der wahren Geschichte nahm ihr Vater natürlich den Baum und schmiss ihn zur Tür hinaus in den Garten hinterm Haus, wo er eine Woche lang herumlag und braun wurde. Es gab Tränen und Schuldzuweisungen. Ihr Vater ging schnurstracks in die Kneipe und betrank sich. Später ging ihre Mutter zu den Kiwanis aufs Gelände und kaufte einen kleinen Baum, der passte und den sie zu dritt schmückten, ohne die Hilfe ihres Vaters. Dieser Baum wartete hell erleuchtet, als ihr Vater besoffen nach Hause kam. Die Geschichte hatten die anderen immer ziemlich witzig gefunden. Aber diesmal fehlt irgendwie der Witz.
»Wollt ihr wissen, wie die Geschichte zu Ende gegangen ist?«, sagt Faith und lächelt strahlend, für die Mädchen, obwohl sie gerade eine Niederlage erlitten hat.
»Ich ja«, sagt Marjorie. Jane sagt nichts.
»Na ja, wir stellten ihn in den Garten und machten Lichter dran, damit unsere Nachbarn auch etwas von unserem großen Baum hatten. Und wir kauften bei den Kiwanis einen kleineren Baum für unser Haus. Das war eine traurige Geschichte, die einen guten Ausgang nahm.«
»Glaube ich nicht«, sagt Jane.
»Solltest du aber«, sagt Faith, »weil sie wahr ist. Weihnachten ist immer besonders und immer wunderschön, wenn man es nur versucht und mit Fantasie an die Sache herangeht.«
Jane schüttelt den Kopf, während Marjorie nickt. Marjorie möchte glauben. Jane, denkt Faith, ist das klassische ältere Kind. Wie sie selbst.
»Wussten Sie« – das war eine von Gretas reizenden Nachrichten auf ihrem Anrufbeantworter in Los Angeles – »wussten Sie, dass Jack es nicht ausstehen kann – nicht ausstehen kann –, wenn man ihm den Schwanz lutscht? Und zwar leidenschaftlich. Natürlich wussten Sie das nicht. Woher auch? Er gibt es nie zu. Tja. Aber falls Sie sich fragen, warum er nie kommt – deshalb. Es turnt ihn total ab. Ich persönlich glaube ja, dass seine Mutter daran schuld ist, also, nicht dass sie es je bei ihm gemacht hätte natürlich. Übrigens, das war ein hübsches Kleid letzten Freitag. Echt tolle Titten. Ich
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