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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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jungen Buchen im Westen.
    »Nein«, sagte Steven. Das war sein erstes Wort – abgesehen von dem Wort, für das er keine Verantwortung übernahm –, seit Marjorie gesagt hatte, was sie an Wichtigem zu sagen gehabt hatte, als ihr Auto sich noch auf das Abendessen zu bewegte.
    Und da schlug er sie. Er schlug sie, bevor er merkte, dass er sie geschlagen hatte, aber nicht bevor er merkte, dass er es wollte. Er schlug sie mit dem Handrücken, ohne sie auch nur anzuschauen, schlug sie direkt vorn ins Gesicht, direkt auf die Nase. Und zwar fest. In gewisser Weise war es mehr eine Geste als ein Schlag, obwohl er schon begriff, dass es auch ein Schlag war. Er spürte die weiche Spitze ihrer Nase und dann den knubbligen Knorpel an den harten Knochen seiner Fingerrücken. Er hatte noch nie eine Frau geschlagen, und er hatte nie auch nur daran gedacht, Marjorie zu schlagen, hatte sich immer vorgestellt, er könnte sie niemals schlagen, wenn er in der Zeitung derartige Meldungen aus dem traurigen Leben anderer Leute gelesen hatte. Er hatte andere durchaus schon geschlagen und war geschlagen worden, oft genug – zähe Jungs aus Maine, auf der Eisbahn. Aber Mädchen kamen nicht in Frage. Das hatte ihm sein Vater immer klar gemacht. Seine Mutter auch.
    »Du lieber Himmel«, war alles, was Marjorie sagte, als sie den Schlag abbekam. Sie legte sofort ihre Hand über die Nase, saß dann aber weiter still im Auto, beide schwiegen. Sein Herz schlug nicht schneller. Sein Handrücken schmerzte leicht. Das war alles Neuland. Steven hatte ein kleines rosiges Muttermal unter der linken Kotelette, wo sein rasiertes Gesicht begann. Es hatte eine ähnliche Form wie West Virginia. Dieses Muttermal meinte er jetzt zu spüren. Die Haut kribbelte dort.
    Doch in Wahrheit fühlte er sich nun richtig erleichtert, und Marjorie tat ihm überhaupt nicht Leid, wie sie stoisch dasaß und ein kleines Dach mit ihrer Hand bildete, um die Nase zu bedecken, und vor sich hin starrte, als wäre nichts passiert. Er erwartete, dass sie weinen würde, ganz sicher. Sie war ein Mädchen, das weinte – wenn sie unglücklich war, wenn er etwas Unsensibles gesagt hatte, wenn sie kurz davor war, ihre Tage zu bekommen. Weinen war etwas Natürliches. Aber ganz eindeutig stellte es für sie eine neue Erfahrung dar, geschlagen zu werden. Das verlangte etwas Neues, und falls nicht etwas Neues, dann irgendeine Stärke, eine Spannkraft, eine Selbstbeherrschung, die normalerweise für andere Erfahrungen reserviert waren.
    »Jetzt kann ich nicht mehr zu den Nicholsons gehen«, sagte Marjorie fast geduldig. Sie nahm ihre Hand weg und musterte die Handfläche, als läge da ihre Nase. Natürlich dachte sie an Blut. Er hörte sie einatmen, es klang nach verstopfter Nase, dann kam das Ausatmen, durch den Mund. Sie weinte noch nicht. Und in diesem kleinen Moment war er sich nicht mal mehr sicher, dass er sie wirklich geschlagen hatte – ob es nicht nur ein Gedanke gewesen war, den er sich geleistet hatte, eine irgendwie unbestellte Geste.
    Allerdings wäre er jetzt sehr gern zu den wirklich wichtigen Dingen übergegangen, statt in falschen, sachfremden Einzelheiten zu versacken. Denn George Nicholson war ihm genauso scheißegal wie die Einzelheiten dessen, was sie in irgendeinem Scheiß-Motel gemacht hatten. Marjorie würde ihn nie wegen George Nicholson oder eines Mannes wie ihm verlassen, und George Nicholson und Männer wie er – Großkotze mit Hinckley-Segelbooten – warfen nicht alles für belanglose kleine Frauen wie Marjorie weg. Er dachte an ihre Nase, rot, geschwollen, verschmiert mit klebrigem Blut, das auf ihr grünes Kleid tropfte. Er nahm nicht an, dass sie gebrochen war. Nasen hielten was aus. Und natürlich hatten sie ein Telefon im Wagen. Er konnte ganz einfach dort anrufen. Er stellte sich das großartige, weitläufige, weiß beschindelte Haus der Nicholsons vor, das hell erleuchtet hinter der gewundenen Auffahrt mit den prachtvoll erhaltenen, indirekt angestrahlten Ulmen lag, und den schwach beleuchteten Sandplatz, auf dem sie alle gespielt hatten, den beheizten Pool, den Henry Moore draußen auf dem dunklen Rasen, wo man einfach drüber stolpern musste. Er stellte sich vor, wie er zu jemandem – nicht George Nicholson – sagte, Marjorie sei krank geworden, habe am Straßenrand gekotzt.
    Aber jetzt zu den richtigen Einzelheiten, bitte. Die richtigen Einzelheiten, die er von ihr erfahren musste, waren: Tut es dir Leid? (er hatte vergessen, dass Marjorie das schon

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