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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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der Kombi zum Stehen kam, saß Steven eine Minute lang bei laufendem Motor da, das lachsfarben getönte Licht vom Armaturenbrett lag auf seinem Gesicht. Das Radio war eingeschaltet, leise – das Ende der Nachrichten, dann ein Zwischenspiel für Waldhorn. Ohne auf irgendetwas Bestimmtes zu reagieren, schaltete er das Radio ab, mit derselben Bewegung auch den Motor, so dass jetzt nur noch die Scheinwerfer auf die leere ländliche Straße schienen. Die Fenster waren offen, um die frische Frühlingsluft hereinzulassen, und als das Motorengeräusch verebbt war, warteten schon die abendlichen Geräusche der Umgebung. Die Laubfrösche. Der Flügelschlag einer Drossel, die aus dem Gebüsch ein paar Meter entfernt aufflatterte. Das Geräusch von etwas, das aus geringer Höhe auf eine unsichtbare Wasseroberfläche klatschte. Jenseits der Schonung junger Bäume lag der Westen, und durch die verdunkelten Stämme konnte man den Himmel sehen, immer noch blassgelb vom Tageslicht, obwohl es hier auf der Quaker Bridge Road fast dunkel war.
    Nachdem Marjorie gesagt hatte, was sie gerade gesagt hatte, schaute sie nach vorn in die helle Schneise des Scheinwerferlichts. Vielleicht warf sie Steven auch einmal einen Blick zu, aber als sie gesagt hatte, was sie gesagt hatte, hielt sie die Hände auf ihrem Schoß und starrte weiter nach vorn. Sie war ein hübsches blondes Mädchen ohne Überzeugungen, mit den Zügen eines Mäuschens – kleine Nase, kleine Ohren, kleines Kinn, allerdings mit einem überraschend volllippigen Lächeln, das sie jedem zuteil werden ließ. Sie trank sich auf Partys gern einen kleinen Schwips an, senkte ihre Stimme und setzte sich mit einem Gläschen auf eine geblümte Ottomane oder eine Baumscheiben-Tischplatte und zeigte zu viel Bein oder unpassend viel von ihren kleinen Brüsten. Sie war in Indiana aufgewachsen und hatte in Purdue Kunst studiert. Steven hatte sie in New York auf einer Party kennen gelernt, als sie für eine Firma arbeitete, die zielgruppenspezifische Werbung für einen großen Spielzeughersteller machte. Ihm hatten es ihre zu einem Bob geschnittenen Haare, ihre zerbrechlichen kleinen Züge und die durchscheinende Haut angetan, und die angeraute Stimme, die sie raffinierter erscheinen ließ, als sie war, und sogar sie selbst davon überzeugte. In ihrer Gemeinde, östlich von Hartford, hielten die Frauen, die Marjorie Reeves kannten, sie für eine typische blonde Schlampe, die nicht sehr lange mit dem lieben Steven Reeves verheiratet bleiben würde. Seine zweite Frau würde dann die Richtige für ihn sein. Marjorie war nur der Einstieg.
    Marjorie selbst sah sich aber gar nicht so, sie mochte Männer eben und fühlte sich glücklich und selbstbewusst in ihrer Nähe und nahm an, dass Steven nichts dagegen hatte, auf lange Sicht würde es schließlich auch seiner Karriere helfen, eine hübsche, muntere Frau zu haben, die keiner in eine Schublade stecken konnte. Um sich abzuheben und in der Gemeinde zu engagieren, war sie als Freiwillige nach Hartford zum Zentrum für Kinder in Not gegangen, was so viel hieß wie: alle schwarz. Und in Hartford hatte sie auch die Gelegenheit ergriffen, George Nicholson zu begegnen und mit ihm im Red Roof Inn zu vögeln, bis sie beide anfingen, sich zu langweilen. Es würde nie wieder passieren, so lautete ihre Sicht der Dinge, denn seit einem Jahr war es nicht mehr passiert.
    Während der zwei oder vielleicht auch fünf Minuten, die sie jetzt schon am Rand der Quaker Bridge Road saßen, während die Frühlingsgeräusche und ein leichter Abendwind durch das offene Fenster herein- und wieder hinauswehten, hatte Marjorie nichts gesagt, und auch Steven hatte nichts gesagt, obwohl ihm klar wurde, dass er nur deshalb nichts sagte, weil es ihm die Sprache verschlagen hatte. Und das bedeutet, begriff er, dass nichts, was einem einfällt, nach dem eben Gesagten als nächster Gesprächsbeitrag besonders interessant erscheint. Er wusste, dass er ein unfertiger Mann war – in mancherlei Hinsicht noch ein Junge –, aber dumm war er nicht. In Bates hatte er Dr. Sudofskys Seminar über Ulysses besucht und sich dort einen gewissen Sinn für Ironie und Humor angeeignet, die Sicherheit, dass wahres Wissen ein geistiger Prozess ist, eine Suche, keine Anhäufung trockener Fakten – so etwas wie Freiheit, die man nur in der Praxis voll und ganz erlebt. Er hatte außerdem Hockey gespielt und wusste, dass Wissen und Angriffslust eine subtile und überraschende und ungewöhnliche

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