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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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hatte. Wenn er an George dachte, fiel ihm immer die Matinicus-Geschichte ein, und dabei sah er immer sich selbst, wie er mit seinem Vater irgendwo draußen Richtung Monhegan Fallen hochholte. Der Gestank des Köders, das Schaukeln des Ozeans im Spätfrühling, die tröstliche Monotonie der kompakten, baumbestandenen, im Dunst kaum sichtbaren Küste. Wenn er sich durch diesen Schaltkreis hindurchdachte, musste er George Nicholson immer vage bewundern, und komischerweise dachte er selbst jetzt, dass er George mochte, trotz allem.
    Der andere, konkurrierende Gedanke war, dass Marjorie schon immer gern verstörende Dinge gebeichtet hatte, die sich dann – wie er annahm – als unwahr herausstellten, das gehörte zu ihrem Wesen: etwa, dass sie einen Sommer lang oben in Saugatuck auf den Strich gegangen war; dass sie im Studium als Oben-ohne-Tänzerin gearbeitet hatte; dass sie Heroin ausprobiert hatte; dass sie zusammen mit ihrem High-School-Freund in Goshen, Indiana, wo sie herkam, bei bewaffneten Raubüberfällen mitgemacht hatte. Wenn sie diese weither geholten Geschichten erzählte, verhedderte sie sich und schüttelte den Kopf, als wären sie wirklich wahr. Und jetzt, während er keine dieser Geschichten für im Geringsten wahrscheinlicher hielt als die heutige, wurde ihm klar, dass er seine Frau eigentlich überhaupt nicht kannte; ja dass das gesamte Konzept, einen anderen Menschen zu kennen – das Konzept des Vertrauens, der Nähe, der Ehe selbst –, zwar nicht gerade eine Lüge war (denn irgendwo existierte es ja, zwar nur als Idee im Leben seiner Eltern, zumindest in Restbeständen), aber doch vollkommen überholt, erloschen, typisch für eine andere Zeit und jetzt leider hinfällig. Ein Mädchen kennen zu lernen, sich zu verlieben, sie zu heiraten, nach Connecticut zu ziehen, ein Scheiß-Haus zu kaufen, ein Leben mit ihr aufzubauen und zu glauben, man wisse wirklich etwas von ihr – das Letzte zumindest war die reinste Fiktion, und das machte den ganzen Rest zu einem Witz. Marjorie konnte genauso gut wirklich eine Nutte gewesen sein oder eine Tanke überfallen und Leute erschossen haben, so wenig wusste er wirklich von ihr. Und angenommen, er sagte irgendetwas davon zu ihr, die da neben ihm saß und wer weiß was dachte – sie würde entweder kein Wort verstehen oder einfach nur sagen: »Ja, okay, in Ordnung.« Mit dem Ausdruck »unterm Strich«, dachte Steven Reeves, war nicht Geld gemeint, sondern genau das, worum es hier ging, genau diese Art fataler Ignoranz. Geld, das man verlieren, verdienen, ausgeben, horten konnte, war nur ein Emblem, allerdings ein gutes, für all das, was hier gerade passierte.
    In diesem Moment umrundete ein Scheinwerferpaar irgendwo weiter vorn eine Kurve. Das Licht strahlte ihre weißen Gesichter an, während sie schweigend nach vorn starrten. Und außerdem einen Waschbären, der gerade vom Rand des Staubeckens her die Straße überquerte, unterwegs in den Wald neben ihnen. Der Wagen fuhr wesentlich schneller, als es zuerst den Anschein hatte. Der Waschbär hielt inne, um in den näher kommenden Lichtschein zu spähen, dann lief er weiter auf die sichere Gegenspur. Erst dann schaute er wieder hoch und bemerkte Stevens und Marjories Auto, das lautlos in der Finsternis am Straßenrand stand. Dieser Anblick bewegte ihn wohl zu dem Entschluss, dass es dort, wo er herkam, viel besser sei als dort, wo er hinwollte, deshalb kehrte er um und tappte zurück über die Quaker Bridge Road zu den kühlen Wassern des Staubeckens. Das führte dazu, dass das näher kommende Auto – genauer gesagt, ein verbeulter Ford-Pick-up – einfach über ihn wegrumpelte, ihn hoch und auf die Seite schleuderte, und dann herrschte nur noch Reglosigkeit auf dem gegenüberliegenden Seitenstreifen. »Jaaa-haaa-jippiiiie!«, schrie die schrille Stimme eines Mannes aus dem dunklen Führerhaus des Pick-ups, gefolgt vom Gelächter eines anderen Mannes.
    Und dann wurde es wieder sehr still. Der Waschbär lag zwanzig Meter vor dem Wagen der Reeves’ am Straßenrand. Er kämpfte nicht. Er lag einfach da.
    »Widerlich«, sagte Marjorie.
    Steven sagte nichts, obwohl es ihm jetzt nicht die Sprache verschlagen hatte. Er empfand es sogar als Erleichterung, seine Augen auf die reglose Leiche des Waschbären heften zu können.
    »Unternehmen wir irgendwas?«, sagte Marjorie. Sie hatte sich ein Stück vorgebeugt, als wollte sie den Waschbären durch die Windschutzscheibe mustern. Das Licht erstarb hinter den schlanken

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