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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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taxiumtosten Straßencafé am Sloane Square und stellten plötzlich fest, dass sie sich in genau diesem Moment nicht viel zu sagen hatten, was bislang immer anders gewesen war – mal hatten sie sich vergnüglich ihr Mittagessen ausgemalt, mal ihren Konferenzbeitrag zu einem problematischen Klienten geprobt, die Kritiken eines Films, den sie sich eventuell anschauen wollten, abgewogen, oder eine verschlüsselte Anspielung auf ihr Liebesspiel der vorangegangenen Nacht gemacht –, all die reizvollen, vorübergehenden Komplikationen solcher Arrangements, wie sie eines hatten. Die Liebe, Henry wusste noch, dass er das damals gedacht hatte, die Liebe war eine langwierige Serie belangloser Fragen, ohne deren Antworten man unmöglich leben konnte. Und zu diesen Fragen waren ihnen die interessanten Antworten ausgegangen. Doch das Ganze damals zu beenden, so weit weg von zu Hause und der vertrauten Umgebung, das wäre taktlos gewesen. Es hätte etwas über sie ausgesagt, dem sie beide nicht zugestimmt hätten: nämlich dass es nicht viel bedeutet hatte; dass sie zu den Leuten gehörten, die Dinge taten, die nicht viel bedeuteten; und dass ihnen genau das, vielsagenderweise, nicht bewusst war oder sehr wohl bewusst war. Nichts von alledem traf zu.
    Deshalb hatten sie weitergemacht. Allerdings wurden in den folgenden Monaten ihre Telefonate seltener und kürzer. Henry flog zweimal allein nach Paris. Er fing ein Verhältnis mit einer Frau in Washington an und beendete es wieder, ohne dass Madeleine es zu bemerken schien. Ihr dreiunddreißigster Geburtstag verstrich unbeachtet. Und dann, als er ohnehin eine Reise nach San Francisco plante, schlug Henry einen Zwischenstopp in Montreal vor. Einen Besuch. Das war klar genug, für sie beide.
    Am Abend seiner Ankunft gingen sie nicht weit vom Biodome essen, bei einem neuen Basken, über den Madeleine gelesen hatte. Sie kam in einem eckigen, wenig schmeichelhaften schwarzen Wollkleid mit schwarzen Strumpfhosen an. Henry und sie tranken zu viel Nonino, redeten wenig, gingen zum St. Lorenz und hielten Händchen in der eisigen Oktobernacht, und im Stillen beobachteten sie dabei, wie schnell das Leben repetitiv wurde, wenn man keine zusammengestückelte Zukunft mehr hatte, die einen beschäftigen und ablenken konnte. Doch sie gingen trotzdem zurück auf sein Zimmer im QE II ., blieben bis ein Uhr früh im Bett, liebten sich mit echter Leidenschaft, redeten eine Stunde lang im Dunkeln, und dann fuhr Madeleine nach Hause zu Ehemann und Sohn.
    Später, allein im Bett in der warmen, tickenden Dunkelheit, überlegte Henry, dass man für eine gemeinsame Zukunft mit einem anderen Menschen ganz sicher lernen musste, wie man geschickter mit Wiederholungen umging. Oder dass eine gemeinsame Zukunft mit einem anderen Menschen einfach keine besonders gute Idee war – und er sollte vielleicht endlich mal anfangen, das zu begreifen.
    Madeleine weinte am Fenster (weil ihr danach war), während Henry sich weiter anzog, wobei er sie nicht ignorierte, aber sich auch nicht gerade um sie kümmerte. Sie war um zehn wieder aufgetaucht, um ihn zum Flughafen zu bringen. So hatten sie es von jeher gehalten, wenn er zu Geschäften in die Stadt kam. Sie trug eng anliegende blaue Kordhosen unter einem schlabbrigen roten Pullover mit einem kleinen weißen Rundkragen. Ihr Aufzug erinnerte, wie Henry auffiel, seltsam an die amerikanische Flagge.
    Jetzt wagte sich keiner von ihnen in die Nähe des Bettes. Sie tranken ihren Kaffee im Stehen und gingen dabei kleine Arbeitsdinge durch, nicht ohne einen Satz zum Herbstwetter – morgens dunstig, nachmittags strahlend klar –, typisch für Montreal, wie Madeleine bemerkte. Sie blätterte die National Post durch, während sich Henry im Bad fertig machte.
    Als er wieder herauskam, um sich die Krawatte zu binden, sah er, dass Madeleine aufgehört hatte zu weinen und aufmerksam zwölf Stockwerke hinunterschaute, auf die Straße.
    »Gerade habe ich gedacht«, sagte sie, »wie viele interessante Dinge du über Kanada nicht weißt.« Sie hatte eine Brille mit durchsichtigem Gestell aufgesetzt, vielleicht um zu verbergen, dass sie geweint hatte, ansonsten diente sie dazu, sie gewissenhaft aussehen zu lassen. Madeleine hatte dickes dunkelstrohfarbenes Haar, das oft trocken und störrisch war, so dass sie es gern mit einer großen Silberklammer zusammenhielt, wie auch heute Morgen. Sie war blass, als hätte sie zu wenig geschlafen, und ihre angenehmen weichen Gesichtszüge, mit

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