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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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wusste er das nicht und glaubte, er habe große, leidenschaftliche Gefühle zu all diesem Quatsch. In Wahrheit gab es hier für keinen von ihnen etwas zu überwinden. Alles, was sie taten, hatten sie selbst entschieden – er hatte entschieden, hier zu sein, und dieser Jeff hatte entschieden, sein Gesicht zu dieser nicht überzeugenden Miene der Wildheit zu verziehen. Jetzt sollten sie mal von was anderem reden. Eishockey.
    »Ich gebe zu, dass ich Madeleine vielleicht mehr mag, als ich sollte«, sagte Henry und war ganz zufrieden damit. »Vielleicht habe ich Verhaltensweisen an den Tag gelegt, die nicht völlig in Ihrem Interesse sind.«
    Darauf blinzelte der junge Mann noch schneller mit seinen glanzlosen braunen Augen. »Ach, wirklich?«, sagte er. »Ist das Ihr großes Geständnis?«
    »Ich befürchte, ja«, sagte Henry und lächelte zum ersten Mal. Er fragte sich, wo Madeleine in diesem Augenblick eigentlich war, da er ihrem jungenhaften Ehemann gegenüber zugab – jedenfalls auf seine Weise –, dass er sie gebumst hatte. Er hatte es so getan, dass zumindest ein potenzielles Körnchen Substanz in dem enthalten war, was sich zwischen ihm und diesem jungen Mann abspielte. »Welche Art von Architektur machen Sie eigentlich?«, fragte er leutselig. Irgendwer ganz in der Nähe sprach Französisch. Er schaute sich danach um. Es wäre so nett gewesen, jetzt einfach Französisch zu sprechen oder Russisch. Egal was. Madeleines Mann sagte etwas, und er war sich nicht sicher, es verstanden zu haben. »Wie bitte.« Wieder lächelte er tolerant.
    »Ich sagte, leck mich«, antwortete der junge Mann und trat einen Schritt näher. »Wenn Sie so weitermachen, sorge ich dafür, dass Ihnen etwas wirklich Schlimmes zustößt. Etwas, das Sie auf keinen Fall erleben wollen. Und glauben Sie nicht, das täte ich nicht. Ich werde es nämlich tun.«
    »Tja. Ich glaube Ihnen selbstverständlich«, sagte Henry. »Das muss man ja glauben, wenn es jemand sagt. Das ist die Regel. Also glaube ich Ihnen.« Er sah an seiner weißen Hemdbrust hinab und entdeckte, dass ein winziger schwarzer Fleck von Madeleines Mascara sie schmückte, von vorhin, als sie sich nach dem Weinen am Fenster an ihn gepresst hatte. Wieder überfiel ihn das Gefühl von Erschöpfung.
    Der junge Mann trat einen Schritt zurück. Die Röte war aus seinem Gesicht gewichen, jetzt wirkte er blass und fleckig. Er hatte die ganze Zeit die Hände nicht aus den Taschen genommen. Womöglich hatte er da eine Waffe. Aber das hier war Kanada. Hier wurde doch keiner mordlustig wegen Untreue.
    »Ihr amerikanischen Arschlöcher«, sagte Madeleines Mann. »Ihr habt doch alle eine gespaltene innere Persönlichkeit. Das liegt in eurer Geschichte. Ihr denkt, ihr müsst euch alles aussuchen. Das ist so lächerlich. Ihr gehört eigentlich nirgendwohin. Ihr seid zynisch. Euer ganzes beschissenes Land.« Er schüttelte den Kopf, offenbar angewidert.
    »Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen. Das ist Ihr Moment«, sagte Henry.
    »Nein, das reicht«, sagte der junge Mann und sah jetzt selber müde aus. »Jetzt wissen Sie, was Sie wissen sollten.«
    »Allerdings«, sagte Henry. »Das haben Sie klar gemacht.«
    Madeleines Mann drehte sich um und ging ohne ein Wort weg, mit großen Schritten quer durch das feierliche gülden-rote Foyer und durch die Drehtür, die auch die Taekwondo-Kinder genommen hatten, verschwand unter den Passanten wie sie. Henry sah auf seine Armbanduhr. Das Ganze hatte weniger als fünf Minuten gedauert.
    Wieder in seinem Zimmer, wechselte er sein Hemd und legte seine Kleider und Waschsachen sorgfältig in den Koffer. Jetzt war das Zimmer kalt, als hätte jemand die Heizung abgestellt oder auf einem Flur das Fenster aufgemacht. Zwei Nachrichten-Zettel lagen auf dem Teppich, halb unter der Tür. Wahrscheinlich von Madeleine, oder sie waren neu, nachträgliche Bedrohungen vom Ehemann. Er beschloss, sie einfach liegen zu lassen. Obwohl irgendetwas Beharrliches an den Nachrichten ein starkes Bedürfnis in ihm auslöste, das Bett zu machen, das Zimmer aufzuräumen, das Frühstückstablett nach draußen zu stellen, ein Bedürfnis, dem er entnahm, dass sein Leben gerade etwas durcheinander kam. Wahrscheinlich würde das erst besser werden, sobald er im Flugzeug saß.
    Von derselben Stelle aus wie vorher Madeleine, beobachtete er den großen T-förmigen Kran, der langsam einen großen Eimer voller Beton zur Spitze der hohen Silhouette eines unfertigen Gebäudes hievte. Er

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