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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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bewertet. Die Möglichkeit auszuwählen machte die Welt erst interessant und das Leben zu einem Handlungsfeld, das man meistern konnte. Was wäre sonst noch von Belang? Alles würde zu Kanada werden. Der Trick bestand nur darin, sich so zu platzieren, dass man möglichst wenig Hindernisse zu überwinden hatte. Komisch, dachte Henry, dass dieser Junge überhaupt irgendetwas kapierte.
    Vom Korridor hörte er Frauenstimmen, die ganz leise Französisch sprachen. Die Zimmermädchen, die darauf warteten, dass er das Zimmer verließ. Er verstand nicht, was sie sagten, und so schlief er eine Weile zu der Musik ihrer seltsamen Plaudersprache.
    Als er sich von der Kasse abwandte und seine Quittung zusammenfaltete, stand Madeleine Granville wartend vor ihm an der großen roten Säule, wo sich Gepäck stapelte. Sie hatte sich umgezogen und ihr feuchtes Haar streng nach hinten gebunden, was ihren vollen Mund und ihre dunklen Augen betonte. Sie sah flott aus in ihrer gut geschnittenen braunen Tweedhose, dem Hahnentritt-Jackett und den teuer aussehenden Wanderschuhen mit Schnürsenkeln. Alles schien ihre Schlankheit und Jugend zu betonen. Sie hatte einen ledernen Rucksack dabei, und Henry fand, sie sah aus, als bräche sie zu einem Ausflug auf. Ganz besonders hübsch, wie andere Male auch schon. Er überlegte, ob sie sich darauf eingestellt hatte, mit ihm zu reisen, ob das der Stand der Dinge mit ihrem Mann war.
    »Ich hatte dir zwei Nachrichten hinterlassen.« Sie lächelte, spöttisch-amüsiert. »Du hast doch nicht geglaubt, ich würde dich mit dem Taxi fahren lassen?«
    Ein paar Leute, die er schon einmal gesehen hatte, hielten sich im Foyer auf – ein Kind, das in seinem weißen Taekwondo-Aufzug allein auf einem großen, thronartigen Sessel saß. Eine schwarze Frau, in einen herbstlichen Brokatstoff gekleidet, die sich in dem Pulloverladen gerade ein Geschenk einpacken ließ. Es war nach Mittag. Er hatte das Mittagessen verpasst.
    »Gehen wir auf Fuchsjagd?«, sagte er und nahm seinen Koffer.
    »Ich fahre mit Patrick nach der Schule los, das letzte Herbstlaub anschauen.« Patrick war ihr Sohn. Sie streckte einen Arm aus und machte einen eleganten Ausfallschritt. »Sehe ich nicht herbstlich aus?«
    »Du stehst genau dort, wo ich vor einer Stunde eine wirklich lächerliche Unterredung hatte«, sagte er und schaute zu den Drehtüren. Stumm zog draußen der Verkehr vorbei. Er fragte sich, ob Jeff noch irgendwo in der Nähe lauerte.
    »Da müssen wir wohl eine Gedenktafel anbringen lassen.« Madeleine schien gut aufgelegt zu sein. »›Hier wurden die Kräfte des Bösen abgewehrt durch‹ … was?« Sie strich mit der Handfläche über ihr feuchtes Haar.
    »Es macht mir nichts aus, ein Taxi zu nehmen«, sagte er.
    »Du kannst mich mal«, sagte sie fröhlich. »Das ist mein Land, aus dem du gerade rausgeschmissen worden bist.« Sie wandte sich zum Gehen. »Komm schon … ›abgewehrt durch die Kräfte der tumben Konvention.‹ Leider.«
    Vom Beifahrersitz in Madeleines gelbem Saab aus beobachtete Henry die großen Baukräne bei der Arbeit – viel mehr Kräne und Baustellen, als von seinem Fenster aus erkennbar gewesen war. Die Stadt wuchs in die Höhe, wodurch sie sich eher noch indifferenter anfühlte. Ein Taxi wäre besser gewesen. Allein im Taxi zu einem Flughafen, weder nach links noch nach rechts geschaut, möglicherweise eine Erleichterung.
    »Du siehst ganz fertig aus, aber wahrscheinlich bist du das gar nicht«, sagte Madeleine. Zu schnell zu fahren versetzte sie immer in eine aggressive gute Laune. Zusammen waren sie immer irgendwohin gefahren, wo es gut war. Damals mochte er die Geschwindigkeit – jetzt weniger, denn sie gefährdete seine sichere Ankunft am Flughafen.
    »Ganz fertig« sah er aus? Dazu gab es nichts zu sagen. Er kannte sie und andererseits auch wieder nicht so recht, jetzt. Das gehörte zu der Veränderung, die sie gerade umsetzten. Als sie mittendrin waren in ihrer Geschichte, konnte Madeleine nicht Auto fahren, ohne ihn ständig anzuschauen, zu lächeln, seine großartigen Eigenschaften herauszustellen, Witze zu reißen, seinen Bemerkungen zuzuhören, sich über ihn zu amüsieren. Jetzt hätte sie irgendwen fahren können – ihre Mutter in den Schönheitssalon, einen Priester zur Beerdigung.
    »Weißt du eigentlich, was übermorgen ist?«, sagte Madeleine und manövrierte sie gekonnt durch die wechselnden Strukturen des Verkehrs. Sie hatte irgendeinen Duft aufgelegt, der den Wagen mit einem dichten

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