Eine Vielzahl von Sünden
»Manchmal bin ich allein oder warte auf dich, und dann werde ich wütend und denke, dass du ein Drecksack bist. Aber das bist du gar nicht. Du bist irgendwie mutig. Du hast schon Prinzipien.«
Diese Wörter – Prinzipien, mutig, Drecksack, warten – machten ihn plötzlich herzrasend nervös, genau in der Situation, wo er es nicht sein wollte. Er sollte nicht nervös sein. Er fühlte sich sehr groß und klobig und fast panisch in einem Raum mit ihr. Nicht mehr überlegen. Er hätte sie genauso gut anschreien können. Wie ruhig und hübsch sie war – er fand es unerträglich.
»Ich glaube, es wird Zeit, dass du gehst«, sagte er, dachte plötzlich wieder an sein Jackett und versuchte, sich zu beruhigen.
»Ja, klar«, sagte Madeleine und griff nach ihrer Handtasche, die seitlich am blauen Sessel hing. Ohne hinzuschauen, tastete sie darin nach dem Schlüssel und holte einen gelben plastik-elastischen Autoschlüsselring heraus, der sie, wie es schien, zum Aufstehen bewegte. »Wann sehe ich dich?«, sagte sie und berührte ihren aufgetufften Haarbusch am Hinterkopf. So wandelbar, dachte er. »Das ist jetzt ein bisschen abrupt. Was ich mir vorgestellt hatte, war etwas ergreifender.«
»Alles wird gut«, sagte Henry und produzierte ein Lächeln, das ihn beruhigte.
»Abgesehen von der Frage, wann ich dich wiedersehe.«
»Abgesehen davon«, sagte er und behielt das Lächeln bei.
Sie schnippte den gelben elastischen Schlüsselring noch einmal über ihre Finger und setzte sich Richtung Tür in Bewegung, vorbei an Rothman, der da stand und ihren Abgang erwartete. Ohne Kuss. Ohne Umarmung. »Jeff wird nicht handgreiflich«, sagte sie. »Vielleicht versteht ihr beide euch ja. Immerhin habt ihr mich gemeinsam.« Sie lächelte beim Öffnen der Tür.
»Das mag für eine Freundschaft nicht ausreichen.«
»Tut mir Leid, dass es so endet«, sagte Madeleine ruhig.
»Mir auch«, sagte Henry Rothman.
Sie lächelte ihn seltsam an und schlüpfte hinaus, ließ die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich zufallen. Er glaubte, sie hätte ihn nicht gehört.
Beim Warten im Vorraum des Fahrstuhls, wo Zigarrenaroma in der Luft hing, befasste er sich nunmehr mit der Tatsache, dass er gleich den wutentbrannten Ehemann einer Frau treffen würde, die er nicht liebte, aber dessen ungeachtet gebumst hatte. Es war wie im Film. Was sollte er von alldem halten? Da würde ein Mann vor ihm stehen, den er nicht kannte, aber der ihn mit vollem Recht hassen durfte und vielleicht sogar umbringen wollte. In das Leben dieses Mannes war er unaufgefordert eingedrungen, hatte Schindluder damit getrieben, es womöglich verdorben und dann ignoriert, und jetzt wollte er wieder raus, besten Dank. Alles, was ihm jetzt Schlimmes zustoßen mochte, hatte er absolut verdient, vermutlich war nichts schlimm genug, da würde keiner widersprechen. In Amerika waren die Leute bei einem solchen Konflikt auf Schadenersatz aus, in Kanada wahrscheinlich nicht. Er fragte sich, was sein Vater wohl sagen würde. Sein Vater war ein großer, inzwischen kahlköpfiger Mann mit einem großen, hart gewordenen Wanst und einer beißenden Art, die davon kam, dass er seit Jahren in Virginia verarmte weiße Antisemiten mit Lungenkrebs behandelte. »Am tiefsten Punkt des Stollens ist am wenigsten Licht«, pflegte sein Vater zu sagen. So fühlte er sich jetzt – im Dunkeln, ohne eine vernünftige Ahnung, wie er damit umgehen sollte. Aber nicht mehr panisch. Eher verstrickt. Panik war bei ihm noch nie ein Dauerzustand gewesen.
Aber einfach aufzutrumpfen, als wüsste er genau Bescheid, und den Ereignissen ihren Lauf zu lassen, wie sie gerade kamen, das wäre ganz sicher der falsche Weg. Er brauchte nicht viel von Jeff zu wissen – das war nie nötig gewesen. Nichts zu wissen war allerdings anwaltsuntypisch. Andererseits hatte dieses ganzes Debakel etwas so zutiefst Unseriöses an sich, dass er plötzlich in einer Art von Entgleisung beinahe in irres Gelächter ausgebrochen wäre, gerade als die Fahrstuhltüren aufglitten. Doch Hauptsache, Madeleine war nicht mehr im Hotel, Hauptsache, Jeff hatte nicht die Tür eingetreten und sie mitten beim Austausch von Intimitäten erwischt – was ja nicht geschehen war. Da interessierte es doch keinen, wer wen kannte. Der Anwalt Henry Rothman befand, hier stand das, was sich dieser Unbekannte alles zusammenfantasieren mochte, dem gegenüber, was er selbst niemals zugeben würde. Nichts führte zu nichts. Er würde ganz einfach so viele Lügen
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