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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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fragte sich erneut, wo in dieser seltsamen, unzusammenhängenden Stadt sie gerade war. Vielleicht saß sie beim Kaffee mit einer Freundin, der sie den ganzen Tag schenken konnte; oder sie wartete vor der Schule auf ihren Sohn; oder auf ihren Mann und den Beginn eines spröden, unglücklichen Gezänks. Nichts, worum er sie beneidete. Auf der Fensterscheibe entdeckte er die Stelle, wo sie mit dem Finger etwas hingeschrieben hatte; jetzt, wo die Luft im Zimmer kälter war, tauchte es auf. Es sah nach »Denny« aus. Was oder wer war Denny? Vielleicht war das auch die Nachricht eines früheren Hotelgastes.
    Und dann fühlte er sich plötzlich, aus keinem besonderen Grunde, so erschöpft, dass ihm fast schwindlig wurde. Außerdem war ihm irgendwann in der letzten Stunde die Ecke eines Backenzahns abgebrochen. Mit der ohnehin schon wunden Zungenspitze blieb er an der zackigen kleinen Ruine hängen (das abgebrochene Stück musste er unbemerkt verschluckt haben). Der Tag hatte aber wirklich einiges an Druck ausgeübt. Er nahm die Brille ab und legte sich quer über die Zeitungen. Aus einem anderen Zimmer hörte er das gedämpfte Geräusch eines Fernsehers, ein lachendes Studiopublikum. Er hatte Zeit, eine Minute zu schlafen oder fünf.
    Aber noch mal zu Madeleine: Es hatte eine Zeit gegeben, da hatte er sie geliebt und es ihr auch gesagt, ein ziemlich umfassendes Gefühl. Nichts von alledem, was an der Liebe närrisch war oder an der Verliebtheit. An eine ganz bestimmte Situation konnte er sich erinnern, an einem steinigen Strand in Irland nicht weit von dem Dörfchen Round Stone in Connemara, sie waren mit dem Auto aus Dublin hergekommen, wo sie sich mit Investoren getroffen und wichtige Vorteile für ihren Klienten ausgehandelt hatten. Da saßen sie im Bruchkies und picknickten und beschlossen, in den aufziehenden Abend hinausstarrend, beschlossen, dass die Lichter dort draußen zu Cape Breton gehörten, wo ihr Vater geboren worden war und wo das Leben besser wäre – obwohl sie, in der wahren Geographie, nach Norden schauten, auf die gegenüberliegende Seite der Bucht, sonst nichts. Im Dorf hinter ihnen fand ein kleiner Rummel statt, mit einem Karussell voller Lichter und einer winzigen, hell erleuchteten Reihe Buden, die den Himmel anstrahlte, während es Nacht wurde. Dort, damals hatte er Madeleine Granville geliebt. Und es gab noch andere Situationen, mehrere, da hatte er es auch gewusst. Warum sollte man das in Frage stellen?
    Doch selbst dann gab es immer ein »Ist es das jetzt?«. Wenn er daran dachte, musste er an seinen Vater denken. Sein Vater war gebürtiger New Yorker und hatte New Yorker Angewohnheiten beibehalten. »Also, Henry. Ist es das für dich?«, sagte er immer spöttisch. Sein Vater fand grundsätzlich, es sollte mehr geben, mehr für Henry, mehr für seine Brüder, mehr als sie hatten, mehr als das, womit sie sich zufrieden gaben. Sich zufrieden zu geben, nicht zu viel erreichen zu wollen, das hieß, man beschied sich mit zu wenig. Was, mehr als das sollte es im Leben nicht werden? – so dachte sein Vater, ganz gleich, wie ausgesucht und unvergleichlich alles war, und es sah ja durchaus danach aus. Das Leben war doch immer besser geworden. Immer hatte noch mehr ins Haus gestanden. Aber Henry war jetzt neunundvierzig, und es gab Veränderungen, auch wenn sie nicht auffielen – körperliche, geistige, seelische Veränderungen. Teile des Lebens waren gelebt und würden nicht wiederkehren. Vielleicht hatte sich die andere Waagschale schon längst zu senken begonnen, und heute hatte etwas an sich, wenn er irgendwann später an diesen Tag zurückdenken würde, heute war womöglich der Moment, als »die Dinge« anfingen, schief zu laufen oder schon schief gelaufen waren, vielleicht hatten »die Dinge« auch jetzt gerade ihren höchsten Punkt erreicht. Und dann hätte man natürlich zu diesem späteren Zeitpunkt mit etwas fertig zu werden. Mit der Erkenntnis nämlich, dass man auf eine Situation zusteuerte, in der keine interessanten Alternativen mehr zur Wahl standen, nur noch die immer weniger interessanten.
    Doch das wusste er in diesem Augenblick noch nicht; denn hätte er es gewusst, er hätte sich vielleicht dafür entschieden, einfach hier bei Madeleine zu bleiben – obwohl das natürlich keine ernsthafte Möglichkeit war. Madeleine war verheiratet und hatte nie gesagt, sie wolle ihn heiraten. Der Ehemann hatte schon Recht gehabt, es ging darum, sich alles auszusuchen, er hatte das nur falsch

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