Eine Vielzahl von Sünden
Rosenaroma erfüllte, und er war ihn schon leid.
»Nein.«
»Kanadisches Thanksgiving. Wir feiern es früher, damit wir einen Vorsprung vor euch Brüdern haben. Kanada hat Thanksgiving erfunden. Kanada hat Thanksgiving erfunden, ja ?« Sie machte sich gern über die Kanadier lustig und konnte es überhaupt nicht leiden, wenn er es tat. Er hatte sie eigentlich nie wirklich als Kanadierin empfunden. Sie wirkte einfach wie ein beliebiges amerikanisches Mädchen. Er wusste nicht genau, wie man jemanden für einen Kanadier hielt, was für entscheidende Abweichungen man da einrechnen musste.
»Feiert ihr es aus denselben Gründen wie wir?«, sagte Henry und betrachtete den Verkehr. Ihm war immer noch etwas schwindlig.
»Wir haben es einfach«, sagte Madeleine glücklich. »Und ihr?«
»Um das Abkommen zwischen den Siedlern und den Indianern zu feiern, die sie hätten ermorden können. Eigentlich eine landesweite Geste der Erleichterung.«
»Mord ist euer großes Thema da unten, was?«, sagte Madeleine und fand sich gut. »Wir begehen Thanksgiving einfach, um nett zu sein. Für Kanada reicht das. Wir sind einfach glücklich und dankbar. Mord spielt wirklich keine große Rolle.«
Die alten Gebäude der Französischen Universität zogen weiter unten und links vorbei. Die kleine Fantasiewelt, »nur für Franzkittel«. Er überlegte, wie er und Madeleine wohl nach dem heutigen Tag miteinander umgehen würden. Daran hatte er noch gar nicht richtig gedacht. Jeder hatte natürlich eine Vergangenheit. Es würde eine Erleichterung für alle sein, die von ihnen wussten, dass das jetzt endlich überstanden war. Und: Wenn er nicht länger zu ihrem Leben gehörte, würde es leichter für sie werden. Ihr einen klaren Kopf verschaffen. Ihnen beiden die Welt wieder auftun.
»Ich habe dir etwas zu sagen«, sagte Madeleine, beide Hände fest auf dem ledernen Steuerrad.
»Ich glaube, ich weiß schon, was«, sagte Henry. Seine Zunge suchte den scharfen kleinen Dorn seines abgebrochenen Backenzahns. Das Fleisch war aufgescheuert und wund, weil er immer wieder dranging. Den konnte er in San Francisco machen lassen.
»Das glaube ich aber wirklich nicht«, sagte sie. Ein großer japanischer Jumbojet sank vor ihnen langsam aus dem blassen Himmel herunter und über die Autobahn hinweg. »Soll ich’s dir sagen?«, sagte sie. »Es muss nicht sein. Es kann auch ewig warten.«
»Dieser Typ war nicht dein Mann«, sagte Henry und räusperte sich ruhig. Das war ihm gerade eben eingefallen – warum, das wusste er nicht. Anwaltsintuition. »Dachtest du, ich bin blöd? Ich meine …« Er brauchte den Satz nicht zu beenden. Der beendete sich von selbst. So vieles, das gesagt wurde, musste nicht gesagt werden.
Madeleine schaute ihn einmal an, dann weg, dann wieder hin. Sie schien beeindruckt zu sein. Sie schien glücklich zu sein, dass sie beeindruckt war, als wäre dies der bestmögliche Ausgang. Der riesige Jet sank außer Sicht, in eine unauffällige Industrielandschaft hinein. Kein großer Feuerball einer flammenden Explosion folgte. Alle in Sicherheit. »Du rätst nur«, sagte sie.
»Ich bin Anwalt. Wo ist der Unterschied?«
Das gefiel ihr auch, und sie lächelte. Er begriff, sie schaffte es einfach nicht, ihn nicht zu mögen. »Woher wusstest du das?«
»Unter anderem?« Der Zubringerverkehr staute sich jetzt an der Flughafenausfahrt. »Er verhielt sich ernsthafter, als seine Gefühle waren. Irgendetwas, das er sagte … ›eine gespaltene innere Dingsda‹? Das klang falsch. Und er sieht nach einem Schauspieler aus. Schläfst du mit dem auch? Ich meine nicht ›auch‹. Du weißt schon.«
»Zurzeit nicht«, sagte Madeleine. Sie berührte ihre silberne Haarspange mit dem kleinen Finger und hielt den Kopf etwas schief. Ihr schien gerade etwas klar zu werden. Was das wohl war, dachte er. Könnte interessant sein. »Ich wusste, du würdest da runtergehen«, sagte sie. »Ich wusste, du konntest nicht widerstehen. Du willst immer so aufrecht und tapfer sein. Das ist deine Verkleidung.«
Henry ließ die freudlose Autobahnlandschaft langsam an sich vorüberziehen – Frachthallen, Speditionsfirmen, Autovermietungen, Tankstellen. Überall dasselbe. Das grüne Schild kam in Sicht. AÉROGARE/AIRPORT . Was für ein Aufwand, alles doppelt zu schreiben.
»Er ist Amerikaner«, sagte Madeleine. »Er heißt Bradley. Er ist tatsächlich Schauspieler. Wir haben uns Sorgen gemacht, du könntest bemerken, dass er kein Kanadier ist.«
»Keine Sorge, was
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