Eine Vielzahl von Sünden
das betrifft«, sagte Henry. Sie nahm AÉROGARE/AIRPORT SORTIE/EXIT und schaute zu ihm herüber. Jetzt wirkte sie etwas aus den Fugen. Vielleicht, dachte er, fiel ihr gerade ein, wie sie sich auf die Wangen geklopft hatte, als sie im Zimmer waren, oder ihr Kommentar – »Was ich mir vorgestellt hatte, war ergreifender«. Das mochte ihr jetzt übertrieben vorkommen.
Er streckte die Hand aus, nahm ihre und hielt sie leicht. Sie war nervös, die Hand warm und feucht. Diese ganze Veranstaltung hatte auch ihr etwas abgefordert. Sie hatten sich geliebt, taten es vielleicht noch.
»Wird das hier eigentlich alles gefilmt?«, sagte er und schaute zur Seite, zu einem Pick-up, der ihnen auf der Nebenspur folgte. Er erwartete, die Ladefläche voller Kameras, Tonausrüstung, lächelnden jungen Cineasten zu sehen. Alles auf ihn gerichtet.
»Zur Abwechslung mal nicht«, sagte sie.
Weiter vorn, bei EMBARQUEMENTS/DEPARTURES , war es rappelvoll. Autos, Limousinen, Taxis, Leute, die Golftaschen, zusammenklappbare Kinderbetten, verklebte Kühltaschen aus ihren bei laufendem Motor wartenden Vans herausnahmen. Polizisten mit weißen Überärmeln winkten alle eilig durch. Er hatte nur einen Koffer, eine Aktentasche, einen Regenmantel. Es war ein wunderbarer Herbsttag geworden. Wolken und Dunst wurden vom Himmel geputzt.
Er hielt ihre Hand weiterhin, und sie umschlang seinen Rücken bedeutungsvoll. Wie würde es wohl sein, fragte er sich, eines Tages das Interesse an Frauen zu verlieren? Bei allem, was er tat – eine Reise hierhin und dorthin, diese und jene Entscheidung –, hatte er immer eine Frau im Kopf gehabt. Ihre Gegenwart belebte alles. So vieles wäre anders ohne sie. Kein Augenblick mehr wie dieser, ein Augenblick der annähernden Wahrheit, der klären, erläutern, stille Gründe für die eigenen Entscheidungen liefern konnte. Und was passierte mit den Leuten, für die das kein Thema war? Die nicht an Frauen dachten. Natürlich gelangen ihnen Dinge. Waren sie besser, ihre Leistungen reiner? Natürlich würde einem all das, sobald es erst einmal außer Reichweite war – nämlich bald –, egal sein.
Am Straßenrand, zwischen Trägern und aussteigenden Passagieren und Gepäckwagen, die sich in rücksichtslosen Winkeln durchdrängelten, stand eine Familie – zwei ältere Erwachsene und drei fast erwachsene blonde Kinder – ins Gebet versunken in einem engen Kreis, Arme an Schultern, mit gesenkten Köpfen. Eindeutig Amerikaner, erkannte Henry. Nur Amerikaner konnten so unbescheiden mit ihrem Glauben umgehen, voller Gewissheit, dass ein schnelles Amen genau das Richtige war, um ihnen Sicherheit zu garantieren – so unüberlegt und stolzgeschwellt zugleich. Nicht gerade die Eigenschaften, die ein Land groß machen.
»Was meinst du, würden sie uns in ihren kleinen Kreis hereinlassen, wenn wir sie fragten?«, sagte Madeleine, das Schweigen brechend, als sie an den Bürgersteig fuhr, direkt neben die betenden Amerikaner. Sie wollte sie ärgern.
»Sie haben uns schon im Blick«, sagte Henry und betrachtete die kräftigen, emsigen Kehrseiten der Pilger. »Wir sind die Kräfte des Bösen, an die sie so oft denken. Die furchtbaren Ehebrecher. Wir bereiten ihnen Sorgen.«
»Das Leben ist eine einzige Auflistung unserer Missetaten, nicht wahr?«, sagte sie. Er konnte wegen der Betenden seine Tür nicht aufmachen.
»Das denke ich nicht.« Er hielt ihre warme, weiche, feuchte Hand lässig. Sie ließ gerade das andere Thema auf sich beruhen – das Lügen, Tricksen, sich einen Scherz auf seine Kosten erlauben. Aber warum nicht, meine Güte, warum es nicht auf sich beruhen lassen?
Er saß einen Augenblick länger da, schaute nach vorn, konnte nicht aussteigen. Er sagte: »Hast du entschieden, dass du mich nicht liebst?« Hier lag das große Rätsel. Seine Version eines Gebets.
»O nein«, sagte Madeleine. »Ich wollte, dass wir immer weitermachen. Wir konnten es bloß nicht. Also. Ich meinte, so könnten wir es vielleicht abschließen. Indem der Unterschied zwischen dem, was ist, und dem, was nicht ist, übertrieben wird. Verstehst du?« Sie lächelte schwach. »Manchmal kann man nicht glauben, dass das, was gerade geschieht, wirklich geschieht, aber man muss es trotzdem. Verzeih. Das war zu viel.« Sie beugte sich zu ihm und küsste ihn auf die Wange, dann führte sie seine beiden Hände an ihre Lippen und küsste sie.
Sie gefiel ihm. Alles an ihr gefiel ihm. Allerdings war jetzt der falsche Augenblick, ihr das zu sagen. Es
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