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Eine Vielzahl von Sünden

Eine Vielzahl von Sünden

Titel: Eine Vielzahl von Sünden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Ford
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schaute wieder auf die Straße. Die beiden Busfahrer, von denen sie annahm, dass sie durch die dunklen Bäume nichts erkennen konnten, starrten sie direkt an. Sie rührte sich nicht. »Das meinte ich nicht«, sagte sie schwach zu Tom.
    »Morgen werden wir ein paar Sachen sehen, die uns gefallen«, sagte er fröhlich. Er lag schon im Bett. So schnell.
    »Gut.« Ihr war egal, ob zwei Würstchen sie nackt sahen; war doch egal, ob sie angezogen war oder nicht. Sie war fünfundvierzig. Nicht gertenschlank, aber groß und drahtig. Guckt doch ruhig. »Das ist gut«, wiederholte sie. »Ich bin froh, dass wir hier sind.«
    »Wie?«, sagte Tom schläfrig. Er war schon fast weg – die Gottesgabe des Cops, in derselben Sekunde einzuschlafen, wenn sein Kopf das Kissen berührte.
    »Nichts«, sagte sie am Fenster, Objekt der Betrachtung. »Ich habe nichts gesagt.«
    Er war still, atmete. Die beiden Fahrer schüttelten jetzt den Kopf und sahen zu Boden. Einer schnippte seine Zigarette auf die Straße. Dann schauten beide wieder hoch und verschwanden hinter ihren laufenden Bussen, außer Sicht.
    Tom Marshall war seit zweiundzwanzig Jahren Polizist. Sie hatten die ganze Zeit in Harlingen, Maryland, gewohnt. Er hatte Raubüberfälle aufgeklärt und war früher als jeder andere zum Detective befördert worden. Nancy war Anwältin beim Offizialverteidiger des Potomac County und kümmerte sich um Frauenfälle, Familienrecht, Behindertenrecht, gefährdete Kinder. Sie hatten sich auf der Uni in Macalester, Minnesota, kennen gelernt. Tom hoffte damals, Anwalt zu werden, sich für die Umwelt oder Bürgerrechte zu engagieren, bewarb sich aber bei der Polizei, weil sie ganz plötzlich ein Kind erwarteten. Dann stellte er überraschend fest, dass er die Polizeiarbeit mochte. Er mochte Raubüberfälle. Sie hatten etwas Biblisches an sich (obwohl er gar nicht fromm war), waren aber nicht so schlimm wie Mord. Nancy fing mit dem Jurastudium an, noch bevor ihr Sohn Anthony mit der Schule fertig war. Sie wollte nicht mit allzu wenig in der Falle sitzen, wenn das Haus eines Tages plötzlich leer war. Die Umkehrung ihrer beruflichen Werdegänge schien ironisch, aber belanglos zu sein.
    In seinem einundzwanzigsten Jahr aber, vor zweieinhalb Jahren, wurde Tom Marshall in eine Schießerei in einem Herman’s Sportbedarf verwickelt, wo er einen Mann hatte befragen wollen. Sein Partner kam ums Leben, und Tom bekam eine Kugel ins Bein. Der Täter wurde nie gefasst. Als Tom nicht mehr krankgeschrieben war, ging er mit einer Tapferkeitsmedaille zurück an die Arbeit und wurde Inspector of Detectives, doch das erwies sich als unbefriedigend. Im Verlauf eines halben Jahres führte der Büroalltag bei ihm zuerst zu Langeweile, dann zu Entfremdung, schließlich kam »unsachliches Verhalten« – meistens war er einfach launisch –, was bei den Männern, die er führen sollte, für eine Verschlechterung der Arbeitsmoral sorgte. Und so wurde er zu Weihnachten frühpensioniert, mit dreiundvierzig, begann sich zu Hause mit neuem Werkzeug auszurüsten und verfiel nach umfangreicher Lektüre auf die Idee, Kinderspielzeug zu erfinden und auch selbst herzustellen. Dazu mietete er sich in einer alten Kabelfabrik, die zu einem Künstlerhaus umfunktioniert worden war, eine Werkstatt, in der nahe gelegenen Kleinstadt Brunswick am Potomac.
    Tom Marshall war, laut Nancy, niemals ein echter Cop gewesen. Er war nicht schweigsam oder zynisch oder unbeugsam oder ständig dabei, sich zu rechtfertigen, und einen Hang zu explosiver, Angst einflößender Gewalt hatte er schon gar nicht. Er war vielmehr ein großer, bohnenstangiger, lächelnd attraktiver Mann mit langen Armen, großen knochigen Händen und Füßen, einem struppigen schwarzen Haarschopf und einem grundsätzlich glücklichen Wesen. Er wirkte eher wie ein Biologielehrer von der High School, was er auch hätte werden sollen, fand Nancy, aber er war ganz froh, Cop gewesen zu sein, sobald er den Job hinter sich hatte. Er las gerne viktorianische Romane, ging im Wald wandern, beobachtete Vögel und Sterne. Und er konnte einfach alles reparieren – Küchengeräte, Lampen, Schlösser –, konnte Vogel- und Bootsmodelle basteln und alle möglichen patenten Möbelstücke erfinden. Er war von Natur aus ein echter Handwerker, und Nancy hatte nie begriffen, warum er so lange Cop geblieben war, abgesehen davon, dass er als junger Mann nicht ein selbst bestimmtes Leben, sondern seine Verantwortung als verheirateter Mann in den

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