Eine Villa zum Verlieben: Roman (German Edition)
die Generationen von frustrierten Bewohnern auf den hässlichen Wänden aus undefinierbarem Grau hinterlassen hatten. Mit einem Mal konnte sie sich keinen einsameren Ort auf der Welt vorstellen als dieses Haus.
Dem Fahrstuhl glücklich entronnen, blinzelte Leonie in die Sonne. Es war Anfang September, Spätsommer, und eigentlich keine Zeit, um Trübsal zu blasen. Doch um glücklich zu sein, fehlte Leonie noch so einiges …
Als sie zehn Minuten später mit dem Fahrrad im noblen Stadtteil Eppendorf ankam und die Tür zu Traumreisen aufschloss, hatte sich ihre Laune kaum gebessert. Daran konnte auch das farbenfrohe Schaufenster mit den vielen Reiseprospekten nichts ändern. Dieser Anblick war für Leonie völlig normal, genauso wie ihre Angewohnheit, von diesen Urlauben nur zu träumen, da sie selbst nicht gerne in einen Flieger stieg. Ihre Phantasie kannte keine Grenzen, wenn es darum ging, sich mögliche Gefahren in allen erdenklichen Varianten auszumalen. Kein Terroranschlag und keine Naturkatastrophe, die Leonie im Geist nicht schon selbst durchlebt und durchlitten hätte. Das war nicht immer so gewesen, sonst hätte sie niemals diesen Beruf ergriffen. Irgendwie wurde sie mit fortschreitendem Alter zunehmend ängstlicher. In den letzten Jahren beschlich sie häufiger das Gefühl, nicht nur in der falschen Wohnung zu leben, sondern auch den verkehrten Job zu haben.
»Na, hast du schon einen Termin für dein Flugangstseminar?«, erkundigte sich Olli, der Azubi, und grinste frech. Olli war knapp zwanzig, schwul bis unter die Haarspitzen und der einzige Lichtblick in Leonies grauem Berufsalltag.
»Nein, hatte noch keine Zeit, mich darum zu kümmern«, entgegnete sie kurz angebunden und warf die große Lederhandtasche auf ihren Schreibtisch. Acht Uhr vierzig. Um neun Uhr öffnete Traumreisen seine Pforten. Blieben also noch zwanzig Minuten, um die Kaffeemaschine anzustellen, einen flüchtigen Blick auf ihre E-Mails zu werfen und den Anrufbeantworter abzuhören. Und nur zwanzig Minuten, bis Doris Möller, ihre Vorgesetzte, den Raum betrat und ihr die Luft zum Atmen nahm.
»Was hattest du denn so Dringendes zu tun, dass du nicht mal Zeit hattest, dich für ein Seminar anzumelden? Gib zu, du konntest dich wieder nicht von deinen Herzschmerz-Schmökern losreißen«, frotzelte Olli und wusste genau, dass er Leonie damit auf die Palme bringen konnte. »Wie heißt das Buch diesmal? ›Herz in Flammen‹, ›Und immer wieder nur die Liebe‹ oder …«
»Halt deine freche Klappe«, funkelte Leonie ihn an, »oder du kannst die nächsten zwei Wochen selbst Kaffee kochen. Und wenn ich richtig fies bin, übernimmst du auch noch den Brötchenholdienst.«
»Okay, okay, ich sag ja gar nix«, erwiderte Olli und machte sich voller Eifer daran, die gerade gelieferten Prospekte auf die Fächer der einzelnen Mitarbeiterinnen zu verteilen. »Fernreisen« kamen zu Doris Möller, »Europa« zu Sandra Koch und »Städtereisen« zu Leonie.
Kurz darauf betrachtete sich Leonie im Spiegel des kleinen Badezimmers, das zum Aufenthaltsraum gehörte. Ihre langen, kupferfarbenen Haare hatte sie zu einem dicken Zopf geflochten. Die rundlichen Wangen waren vom Fahrradfahren leicht gerötet und verliehen ihrem sonst eher blassen Teint einen rosigen Schimmer. Ihre babyblauen Augen strahlten ihr aus dem Spiegel entgegen. Alles in allem war Leonie mit ihrem Aussehen zufrieden, auch wenn sie nicht unbedingt zu einem In-Viertel wie Eppendorf passte, in dem ein gewisser Einheitschic vorherrschte. Dafür war sie ein wenig zu rundlich, zu gesund und nicht modisch genug. Ihr Ex-Freund Henning hatte immer behauptet, Leonie sehe aus wie ein appetitlicher Hefezopf, mit kleinen Streuseln obendrauf. Beim Gedanken an Henning und ihren Heimatort seufzte Leonie. Vielleicht sollte sie doch wieder aufs Land ziehen …
Die Chancen, in einer anonymen Großstadt wie Hamburg den Mann fürs Leben zu finden, tendierten gegen null. Sie wünschte sich nichts sehnlicher als ein Kind oder gleich mehrere. Am besten die viel zitierte Fußballmannschaft. Aber selbst wenn sie morgen auf ihren Traummann treffen und sofort schwanger werden würde, so würde aus der Fußballmannschaft wohl nichts mehr werden, dazu war sie einfach schon zu alt.
»Die müssen doch irgendwo sein«, schimpfte Stella Alberti leise vor sich hin, während sie den Inhalt ihrer Handtasche auf dem Toilettendeckel auskippte. In ihrem Kopf pochte es, als hätte sich dort ein Presslufthammer eingenistet,
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