Eine Vorhaut klagt an
hatte, der versucht hatte, uns zu töten, oder wir beteten zu Gott, Er möge uns nicht töten. Die jüdische Geschichte war genauso: Wenn die Babylonier uns nicht töten wollten, dann eben die Römer. Wenn nicht die Römer, dann die Spanier. Und wenn nicht die Spanier, dann die Deutschen. An jedem Holocaust-Gedenktag wurden wir in die Schulaula geführt, um uns stundenlang alte Wochenschauen anzusehen, die so drastisch waren, dass unsere Eltern ein besonderes Erlaubnisformular unterschreiben mussten. Für mich war das nie ein Problem gewesen. Meine Mutter lebte für den Tod. Nichts machte sie glücklicher als Trauer. Nichts machte sie fröhlicher als Melancholie. Sie arbeitete als MTA bei einem Kinderarzt, und die Tragödien, die sie dort mitbekam, waren für sie mindestens so aufbauend wie ein Besuch beim Zahnarzt.
– Heute war ein Junge in der Praxis, sagte sie beim Abendessen. – Hepatitis. Sie machte eine Pause und aß langsam einen Löffel Suppe. – C, setzte sie hinzu.
Mein Vater haute mit der Faust auf den Tisch.
– Müssen wir uns diese Scheiße bei jedem verdammten Essen anhören?, blaffte er und stampfte mit seinem Teller in die Küche, um dort fertig zu essen.
Doch, das mussten wir.
– Das ist das Todesurteil, sagte sie, als er gegangen war. – Die Kinder haben keine Chance.
Lungeninfektionen. Erbkrankheiten. Meningitis. Ich aß, so schnell ich konnte, in der Hoffnung, den Nachtisch hinter mir zu haben, wenn die Magen-Darm-Beschwerden kamen.
Vielleicht war auch das Jeffies Schuld. Vielleicht war meine Mutter, bevor er kam – und wieder ging –, gar nicht so auf den Tod fixiert gewesen, aber es war eine Tragödie, von der sie sich nicht mehr erholen wollte. Mit Jeffie und meinen Verwandten, die im Holocaust gestorben waren, hatte meine Mutter mehr Bilder von Toten an der Wand hängen als von Lebenden, und den Toten schien es besser zu gehen: Mein Bruder hasste meine Mutter und lehnte mich ab; meine Mutter verabscheute meinen Bruder und verhätschelte mich und meine Schwester; meine Schwester hasste meinen Bruder und verteidigte meine Mutter; ich beneidete meinen Bruder und bedauerte meine Mutter; mein Vater hasste uns alle, und meine Mutter seufzte, machte den Abwasch und sang traurige jiddische Lieder über die elende Sinnlosigkeit des Lebens. Und das alles, so die Familiengeschichte, nur, weil Jeffie gestorben war.
Neben meiner Mutter und meinen Rabbis war der Tod nicht das Schlimmste, das ich mir vorstellen konnte. Und mit neunzehn war er mir ohnehin völlig egal.
Ein paar Monate nachdem ich angefangen hatte, stellte Motty einen zweiten Hüter ein. Das Geschäft lief gut. Motty vergrößerte sich. Er expandierte, um der Nachfrage zu begegnen. Mir passte das nicht.
Der neue Hüter hieß David. David war ein Cousin von Motty, und ich war überzeugt, dass er bevorzugt behandelt wurde. Er bekam fast jeden Wochenendjob – den mit den zweihundert Dollar –, und ich war mir ziemlich sicher, dass er sich auch die Auftritte unter der Woche aussuchen durfte.
Ungeduldig rief ich Motty an.
– Gibt’s was?, fragte ich.
– Nichts, sagte Motty. – Hab ich dich angeklingelt?
– Nein. Wollt nur mal hören.
– Ich klingel dich an.
Der dritte Hüter, den Motty einstellte, hieß Shmuel. Shmuel war ein ultraorthodoxer Jeschiwestudent, der Motty von der Synagoge her kannte und so zynisch war zu behaupten, das Geld sei ihm nicht wichtig. – Ich brauch die Mizwes !, sagte er zu Motty und klatschte mit selbstgerechter Freude in die Hände. Schon bald war ich bei einem lausigen Toten alle zwei, drei Wochen angelangt.
Ungeduldig rief ich Motty an.
– Gibt’s was?, fragte ich.
– Nichts, sagte Motty. – Hab ich dich angeklingelt?
– Nichts?, fragte ich. – In den letzten drei Wochen ist in ganz Brooklyn und Queens niemand gestorben?
– Wohl dem, der die Kranken heilt, sagte Motty.
– Ach, Blödsinn, sagte ich und knallte den Hörer hin. Selbst beim Tod ging es darum, wen man kannte. Motty klingelte mich nicht mehr an.
Ich hatte fast einen ganzen Monat Pause vom Tod – keine Bestattungsunternehmen, keine Kühlschränke, keinerlei Leiden –, als meine Mutter anrief, um mir zu sagen, dass meine Großmutter gestorben war.
– Sie ist im Zion Gate Memorial Home, sagte sie, – weißt du, wo das ist?
Meine Mutter war stolz auf meine Karriere als Hüter gewesen und traurig, als sie von ihrem abrupten Ende hörte. Sie war wie ein Yankee-Fan, der jemanden kannte, der für die
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