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Eine Vorhaut klagt an

Eine Vorhaut klagt an

Titel: Eine Vorhaut klagt an Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shalom Auslander
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Erdgeschoss war aufwendig mit viktorianischem Mobiliar, schweren goldenen Wandbehängen und italienischem Marmor ausgestattet. Der Wachmann führte mich durch die Eingangshalle zu einer Stahltür am anderen Ende. Wir gingen die kahlen Holzstufen in das Souterrain hinunter, wo die Leichen aufbewahrt wurden, und ich musste an das alte Sprichwort denken, man solle nie in die Küche seines Lieblingsrestaurants schauen.
    Hier gab es keine Wandbehänge und auch keinen Marmor. Dafür eine Menge rostige Rohre, einen lärmenden Boiler und einen gefährlich überlasteten Sicherungskasten. Das einzige Möbelstück war, abgesehen von ein paar Krankenhausbahren, ein ramponierter alter Metallklappstuhl.
    – Da wären wir, sagte der Wachmann. – Am Ende des Flurs ist die Toilette.
    – Ich komme wegen Bernstein. Ist hier ein Bernstein?
    Er zeigte auf die große Edelstahltür eines handelsüblichen Kühlschranks.
    – Bernstein, sagte er. – Ich bin noch eine Viertelstunde hier, falls Sie noch was brauchen.
    Ich öffnete meinen Rucksack und zog eine Flasche lila Gatorade und mein Psalmenbuch heraus. – »Wohl dem, der wandelt auf der Gerechten Pfad …« O Mann. Es erschien mir ein wenig spät, Bernstein so einen Rat zu geben.
    – Ich weiß nicht, wie’s dir geht, Bernstein, sagte ich, – ich bin jedenfalls abgebrannt.
    Ich legte mich auf eine Bahre, setzte meinen Walkman auf, rauchte einen halben Joint und versuchte zu schlafen. Dann überlegte ich, ob es so etwas wie eine Seele gab, aber selbst wenn, ich war mir ziemlich sicher, dass ein Kiffer mit glasigen Augen, der eine Tüte Doritos-Cool-Ranch-Tortillachips leer mampfte, ihr nicht wahnsinnig viel Trost spenden konnte.
     
    Das Geschäft lief gut. Ich genoss die Unabhängigkeit. Ich machte mir meine Arbeitszeiten selbst. Keine Meetings, kein Smalltalk. Ich war mein eigener Herr. Nur ich, mein Sandwich, ein Tütchen Marihuana, eine Schachtel Kippen, Appetite for Destruction von Guns N’ Roses und ein Toter in einem großen Stahlkühlschrank.
    Leider legte das jüdische Recht fest, dass ein Hüter immer nur über einen Leichnam wachen durfte. Lag nur ein Leichnam in dem Bestattungsunternehmen, war klar, welchen ich behütete, dann war es nicht nötig, dass ich ihn sah. Manchmal aber war der Kühlschrank proppenvoll, von oben bis unten, was bedeutete, dass ich die Tür aufmachen und richtig in Blickkontakt mit dem zu behütenden Leichnam treten musste. Wie bei den meisten biblischen Dingen war diese Methode nicht eben narrensicher, und sie führte zu einem gewissen Durcheinander. In einer Nacht sollte ich einen Epstein behüten. Im Kühlschrank lagen aber drei: ein David Epstein, ein Gerald Epstein und ein Moshe Epstein.
    Ich erwischte den Bestatter gerade noch, bevor er Feierabend machte.
    – Jau, sagte er, – wir haben eine ganze Ladung Epsteins reinbekommen.
    Wir betraten den Kühlschrank.
    – Welcher Epstein ist meiner?, fragte ich.
    – Welcher Epstein ist meiner?, wiederholte er, während er ihre Schildchen prüfte, als handelte es sich um eine tiefgründige, existenzielle Frage, über die die Menschheit seit Anbeginn der Zeit gegrübelt hatte. Welcher Epstein ist meiner? Wie finde ich meinen Epstein?
    – Den Vornamen hat man Ihnen nicht gesagt?
    Nein. Er schlug vor, ich solle mich auf alles gefasst machen und mir jeden Epstein genau ansehen. – So müsste es gehen, sagte er.
    – Wirklich?, fragte ich. – Ist das auch koscher?
    – Für mich schon, sagte er.
    Ich betrachtete die Leichen reihum. Epstein. Epstein. Epstein.
    – Okay, wenn ich das hier habe?, fragte ich und hielt meine Flasche lila Gatorade hoch.
    – Für mich schon, sagte er.
    Es entwickelte sich eine gruselige Ökonomie. All die Toten verschafften mir ein hübsches Leben. Einer bezahlte meine Amex-Rechnungen. Drei deckten meinen Mietanteil ab. Ein Wochenendjob versorgte mich mit Stoff und Essen, und bald war der Monat für mich klar; jeder weitere Tote war eine Dreingabe. Zwei Tote verschafften mir neue Air Jordans. Drei bedeuteten einen neuen Fernseher. Hätte Motty mir einen zusätzlichen Toten pro Woche fest zugesagt, hätte ich mir Pay- TV bestellt. Aber ich war ja nicht blöd. Ich sparte auf einen 82er Ford Mustang Cabrio.
     
    Der Tod machte mir nichts aus. Ich hatte zwar noch keinen Toten vorher persönlich gekannt, aber nach neunzehn Jahren in orthodoxen Jeschiwes war ich mit dem Tod ganz gut vertraut.
    Die jüdischen Feiertage hatten offenbar alle mit jemandem zu tun, der uns getötet

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