Eine wie Alaska
der Mauer hing. An die Wand waren mit Kuli und Filzstift Dutzende von Nummern und mysteriösen Notizen gekritzelt ( 205-555-1584; Tommy zum Flughafen 16:20; 773-784-0850; JG–Kuffs? ). Hier anzurufen verlangte eine Menge Geduld. Nach dem neunten Klingeln hob ich den Hörer ab.
»Kann ich Chip sprechen?«, fragte Sara. Es klang, als riefe sie vom Handy an.
»Ja, einen Moment.« Der Colonel stand schon hinter mir, als hätte er gewusst, wer dran war. Ich hielt ihm den Hörer hin und ging zurück in unser Zimmer.
Eine Minute später hallten drei Worte durch die stille, stickige Abendluft. »Fick dich selber!«
Als er zurückkam, setzte sich der Colonel mit der Flasche Ambrosia auf die Couch. »Sie sagt, ich hätte Paul und Marya verpfiffen. Das behaupten die Tagestäter. Ich hätte sie verpfiffen. Ich . Deswegen die Pisse in meinen Schuhen. Deswegen haben sie dich fast ertränkt. Weil du mit mir in einem Zimmer wohnst, und sie behaupten, ich wäre ein Denunziant.«
Ich versuchte mich zu erinnern, wer Paul und Marya waren. Ich hatte in der letzten Woche so viele Namen gehört, doch »Paul« und »Marya« konnte ich mit keinem der Gesichter zusammenbringen. Und dann fiel mir auch ein warum: Ich hatte sie nie gesehen. Sie waren letztes Jahr wegen Trifecta rausgeflogen.
»Wie lange seid ihr schon zusammen?«, fragte ich.
»Neun Monate. Wir haben uns nie gut verstanden. Ich meine, ich hab sie von Anfang an nicht gemocht. Verstehst du, bei meinen Eltern war es so – wenn mein Dad sauer war, hat er sie verprügelt. Aber dann war er wieder total lieb, und eine Zeit lang war es wie in den Flitterwochen. Nur, mit Sara hat es nie Flitterwochen gegeben. Gott, wie kann sie nur glauben, ich wäre ein Denunziant? Ich weiß, was du sagen willst: Warum machen wir nicht Schluss?« Er fuhr sich durchs Haar und hielt ein Büschel fest. »Ich schätze, ich bleibe bei ihr, weil sie bei mir bleibt. Und das ist nicht einfach. Ich bin ein schlechter Freund. Sie ist eine schlechte Freundin. Wir haben einander eben verdient.«
»Aber –«
»Ich fasse es nicht, dass sie das glauben«, seufzte er. Dann ging er ans Bücherregal und zog den Atlas raus. Er trank einen großen Schluck Ambrosia. »Verdammte Tagestäter. Wahrscheinlich hat einer von ihnen sie verpfiffen, und der schiebt es jetzt mir in die Schuhe, damit ihm keiner auf die Spur kommt. Egal, heute ist ein guter Abend, um daheim zu bleiben. Bei Pummel und Ambrosia.«
»Aber ich verstehe immer noch nicht –« Ich wollte sagen, dass ich nicht verstand, wie er ein Mädchen küssen konnte, das ihn für einen Denunzianten hielt, wenn für ihn ein Denunziant das Schlimmste auf der ganzen Welt war, doch der Colonel schnitt mir das Wort ab.
»Kein Wort mehr. Weißt du, wie die Hauptstadt von Sierra Leone heißt?«
»Nein.«
»Ich auch nicht«, sagte er, »aber ich finde es gleich heraus.« Und damit steckte er die Nase in den Atlas, und das Gespräch war beendet.
Einhundertzehn Tage vorher
Der Unterricht fiel mir leichter als erwartet. Die Gewohnheit, viel Zeit zu Hause mit Büchern zu verbringen, verschaffte mir einen eindeutigen Vorteil gegenüber dem durchschnittlichen Culver-Creek-Schüler. Nach drei Wochen waren die meisten braungebrannt wie ein Bufrito, weil sie die Freistunden quatschend auf der schattenlosen Wiese im Schlafsaalring verbrachten. Ich dagegen war nicht mal rosa: Ich büffelte.
Und normalerweise passte ich im Unterricht auf. Bis auf diesen Mittwochmorgen, als Dr. Hyde über die Buddhisten sprach und darüber, wie alles miteinander verwoben ist, und ich aus dem Fenster starrte. Ich betrachtete die sanft ansteigenden, bewaldeten Hügel hinter dem See. Und von Dr. Hydes Klassenzimmer aus schien tatsächlich alles miteinander verwoben: Die Bäume bedeckten den Hügel, und wie die Baumwollfasern in Alaskas umwerfend engem, orangem Spaghettiträgerhemd waren die einzelnen Bäume da draußen nicht zu unterscheiden – alles war so eng miteinander verwoben, dass es unsinnig war, einen Baum dieses Hügels unabhängig vom anderen betrachten zu wollen. Und plötzlich hörte ich meinen Namen, und ich wusste, dass ich Ärger bekam.
»Mr. Halter«, sagte der Alte. »Hier stehe ich und verausgabe ihrer Ausbildung zuliebe meine Lunge. Und doch scheint irgendetwas da draußen ihre Aufmerksamkeit mehr zu fesseln. Bitte sagen Sie uns: Was haben Sie dort draußen entdeckt?«
Jetzt rang ich selbst nach Luft, während die ganze Klasse mich anstarrte und Gott dankte, dass sie
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