Eine wie Alaska
aber meine Kiendheit und so, weil, versteht ihr, die meisten Zwölfjährigen müssen siech niecht über W2-Formulare den Kopf zerbrechen.«
»Was ist ein W2-Formular?«, fragte ich.
»Genau das meine ich. Es hat was mit der Steuer zu tun. So. Derselbe Tag.« Lara hatte immer für ihre Eltern sprechen müssen, und vielleicht hatte sie deswegen nie gelernt, für sich selbst zu sprechen. Ich war auch nicht besonders gut darin, für mich selbst zu sprechen. Da hatten wir etwas Wichtiges gemeinsam, einen Charakterzug, den ich weder mit Alaska noch mit sonst wem teilte, auch wenn Lara und ich per Definition nicht darüber sprechen konnten. Vielleicht war es der Winkel der schrägen Sonnenstrahlen, die in ihre geschmeidigen, dunklen Locken fielen, doch in diesem Moment wollte ich sie küssen, denn wir mussten nicht reden, um uns zu küssen, und die Kotze auf ihrer Jeans und die Monate, in denen wir einander aus dem Weg gegangen waren, schienen sich in Luft aufzulösen.
»Du biest dran, Takumi.«
»Der schlimmste Tag meines Lebens«, begann Takumi. »9. Juni 2000. Meine Großmutter in Japan starb. Sie hatte einen Autounfall, dabei sollte ich sie zwei Tage später besuchen. Ich wollte den ganzen Sommer bei ihr und meinem Großvater verbringen, doch stattdessen flog ich zu ihrer Beerdigung rüber, und das einzige Mal, dass ich sie je in Wirklichkeit gesehen hab, ich meine, außer auf Fotos, war auf ihrer Beerdigung. Es war eine buddhistische Beerdigung, und sie wurde verbrannt, aber davor war sie auf diesem – also, so rein buddhistisch war das nicht. Ich meine, Religion da drüben ist kompliziert, da ist ein bisschen Buddhismus dabei, ein bisschen Shinto, aber ist ja egal – jedenfalls wurde sie auf so einer Art Scheiterhaufen aufgebahrt. Und das war das einzige Mal, dass ich sie gesehen habe, kurz bevor sie verbrannt wurde. Der schlimmste Tag meines Lebens.«
Der Colonel zündete eine Zigarette an, warf sie mir zu, dann zündete er sich selbst eine an. Es war unheimlich, wie genau er immer wusste, wann ich rauchen wollte. Wir waren wirklich wie ein altes Ehepaar. Kurz kam mir der Gedanke: sehr unklug, in einer Scheune voller Heu mit brennenden Zigaretten um sich zu werfen , aber dann war der Augenblick der Vorsicht schon wieder verflogen. Ich versuchte, wenigstens darauf zu achten, keine glühende Asche ins Heu zu schnipsen.
»Bis jetzt ist noch kein eindeutiger Sieger festzustellen«, sagte der Colonel. »Das Feld ist weit offen. Du bist dran, Schwester.«
Alaska lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Sie redete schnell und leise, doch da der ruhige Tag in eine noch ruhigere Nacht überging – mit Ankunft des Winters hatten sich die Mücken verzogen –, verstanden wir sie klar und deutlich.
»Der Tag, nachdem ich mit meiner Mom im Zoo war, wo sie die Affen am tollsten fand und ich die Bären, war ein Freitag. Ich kam von der Schule nach Hause. Sie hat mich in den Arm genommen, und dann hat sie mich in mein Zimmer an die Hausaufgaben geschickt, damit ich später fernsehen durfte. Als ich in meinem Zimmer war, setzte sie sich an den Küchentisch, und dann hat sie angefangen zu schreien, und ich bin rausgerannt, und sie war mit dem Stuhl umgefallen. Sie lag zuckend auf dem Boden und hielt sich den Kopf. Und ich war total unter Schock. Ich hätte den Krankenwagen rufen sollen, aber stattdessen hab ich auch angefangen zu schreien und zu heulen, bis meine Mom irgendwann mit dem Zucken aufhörte, und ich dachte, sie wäre eingeschlafen und es würde ihr jetzt nicht mehr so wehtun. Und so saß ich bei ihr auf dem Boden, bis mein Dad eine Stunde später heimkam. Er hat geschrien: ›Warum hast du nicht den Krankenwagen gerufen?‹ Er hat versucht, sie wiederzubeleben, aber in der Zwischenzeit war sie längst mausetot. Aneurysma. Schlimmster Tag. Ihr müsst trinken.«
Und das taten wir.
Eine Minute lang sagte keiner was, dann fragte Takumi: »Dein Dad hat dir die Schuld gegeben?«
»Na ja, nur im ersten Moment, dann nicht mehr. Aber zuerst schon. Was hätte er sonst sagen sollen?«
»Aber du warst ein kleines Kind«, widersprach Takumi. Ich war viel zu entsetzt und verlegen, um irgendwas zu sagen. Ich musste erst mal versuchen, das mit dem zusammenzubringen, was ich von Alaska wusste. Ihre Mom hatte mit ihr Teekesselchen gespielt – als Alaska sechs war. Ihre Mom hatte mal geraucht – doch sie rauchte nicht mehr, logischerweise.
»Ja. Ich war noch ein kleines Kind. Kleine Kinder können 112
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