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Eine wie Alaska

Titel: Eine wie Alaska Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: J Green
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wählen. Das tun sie dauernd. Gib mir den Wein«, sagte sie ausdruckslos und emotionslos. Sie trank, ohne den Kopf aus dem Heu zu heben.
    »Es tut mir so leid«, sagte Takumi.
    »Warum hast du das nie erzählt?«, fragte der Colonel behutsam.
    »Das Thema hat sich wohl nie ergeben.« Und dann hörten wir auf, Fragen zu stellen. Was zum Henker sagt man in so einem Moment?
    Während des langen Schweigens, das folgte, als wir die Weinflasche herumreichten und immer betrunkener wurden, musste ich an Präsident William McKinley denken, den dritten amerikanischen Präsidenten, der einem Attentat zum Opfer fiel. Nachdem ihn die Kugel getroffen hatte, lebte er noch ein paar Tage, und dann, als es mit ihm zu Ende ging, begann seine Frau zu weinen und zu schreien: »Ich will mit dir gehen! Ich will mit dir gehen!« Mit allerletzter Kraft sah McKinley sie an, und seine letzten Worte waren: »Wir gehen alle.«
     
    Das war also der Schlüsselmoment in ihrem Leben. Als sie bei mir auf dem Sofa weinte und sagte, sie würde immer alles verbocken – jetzt begriff ich, was sie meinte. Und als sie sagte, sie würde immer alle hängen lassen – jetzt wusste ich, wen sie meinte. Ihre Mom war das Wichtigste in ihrem Leben gewesen, und ich konnte mich nicht gegen das Bild wehren: Das schmächtige, achtjährige Mädchen mit den schmutzigen Fingernägeln, das zusehen muss, wie seine Mutter sich in Krämpfen wälzt. Und dann setzt es sich zu seiner schon toten oder noch nicht toten Mutter, die wahrscheinlich nicht mehr atmet, aber auch noch nicht kalt ist. Und in dieser ganzen Zeit zwischen dem Sterben und dem Tod bleibt die kleine Alaska ganz still bei ihrer Mutter sitzen. Und in dem Schweigen und in meiner Betrunkenheit konnte ich tatsächlich ahnen, wie es damals gewesen war. Sie muss sich vollkommen ohnmächtig gefühlt haben, dachte ich, wenn ihr nicht einmal die eine Sache eingefallen war, die sie hätte tun können – das Telefon in die Hand nehmen und den Krankenwagen rufen. Es kommt die Zeit, da wir begreifen, dass unsere Eltern weder uns retten können noch sich selbst, dass jeder einzelne von uns, die wir durch den Fluss der Zeit waten, irgendwann von der Strömung weggerissen wird – kurz, dass wir alle gehen.
    Deswegen war Alaska so unvorhersehbar geworden, deswegen hatte sie sich von jener fatalen Untätigkeit in ewige Hyperaktivität gestürzt. Als der Adler ihr mit dem Rauswurf drohte, war sie vielleicht mit Maryas Namen herausgeplatzt, weil es das Erste war, was ihr einfiel, denn sie wollte in dem Moment nicht von der Schule fliegen und konnte an nichts anderes denken. Natürlich hatte sie Angst. Aber viel schlimmer war die Angst, wieder von ihrer Angst gelähmt zu werden.
    »Wir gehen alle«, sagte McKinley zu seiner Frau. So viel ist sicher. Da habt ihr euer Labyrinth des Leidens. Wir gehen alle. Sucht euch den Weg aus diesem Irrgarten hinaus.
    Nichts davon sagte ich zu ihr. Damals nicht, und auch danach nicht mehr. Wir haben nie wieder ein Wort darüber verloren. Stattdessen war es nur ein schlimmster Tag neben anderen, wenn auch der schlimmste von uns allen, und als die Nacht hereingebrochen war, tranken wir weiter und alberten weiter herum.
     
    Spät in der Nacht, nachdem sich Alaska den Finger in den Hals gesteckt und sich vor unseren Augen übergeben hatte, weil sie zu blau war, in den Wald zu gehen, kroch ich in meinen Schlafsack. Lara lag im Schlafsack neben mir, und wir berührten uns beinahe. Ich schob den Arm zu ihr und fand ihre Hand, auch wenn zwei Schlafsäcke zwischen uns waren. Ich hatte vor – und fand mich sehr gewieft dabei –, unauffällig den Arm aus dem Schlafsack zu ziehen und ihn in ihren Schlafsack zu stecken, damit ich ihre Hand halten konnte. Es war ein guter Plan, doch als ich versuchte, den Arm freizubekommen, zappelte ich wie ein Fisch auf dem Trockenen und renkte mir dabei fast die Schulter aus. Lara bog sich vor Lachen – nicht mit mir, sondern über mich –, aber wir redeten immer noch kein Wort. Jetzt konnte ich keinen Rückzieher mehr machen, und am Ende schaffte ich es doch noch, die Hand in ihren Schlafsack zu schieben, und sie unterdrückte ein Kichern, als ich mit den Fingerspitzen über ihren Unterarm strich.
    »Das kietzelt«, flüsterte sie. So sexy war ich also.
    »Tut mir leid«, flüsterte ich zurück.
    »Nein, es ist ein schönes Kietzeln«, sagte sie und hielt meine Hand fest. Sie flocht ihre Finger in meine und drückte mich. Und dann rollte sie herüber und küsste

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