Eine wie Alaska
ausgeflippt ist. Wenn sie plötzlich total down war und immer diese Andeutungen gemacht hat über diese verdammt unglaubliche Tragödie ihres Lebens und so, aber nie gesagt hat, was eigentlich los war. Es gab nie einen richtigen Grund für ihre Downs. Und ich finde, man muss einen Grund haben. Meine Alte hat mich sitzen lassen, ich bin traurig. Ich bin beim Rauchen erwischt worden, ich bin sauer. Ich hab Kopfschmerzen, und deswegen bin ich schlecht drauf. Sie hatte nie für irgendwas einen Grund, Pummel. Ich hatte es so satt, wie sie immer alles dramatisiert hat. Und dann hab ich sie einfach gehen lassen. Oh Gott.«
Ihre Launenhaftigkeit war mir auch auf die Nerven gegangen, manchmal, aber nicht in der Nacht. In der Nacht habe ich sie gehen lassen, weil sie mich darum gebeten hatte. Ich habe es mir so einfach gemacht, und ich bin so dumm gewesen.
Die Hand des Colonels war klein, und ich hielt sie fest, seine Kälte kroch zu mir herüber und meine Wärme zu ihm. »Ich hab die Bevölkerungszahlen auswendig gelernt«, sagte er.
»Usbekistan.«
»Vierundzwanzig Millionen siebenhundertfünfundfünfzigtausend fünfhundertneunzehn.«
»Kamerun«, sagte ich, doch es war zu spät. Er war eingeschlafen, seine Hand lag schlaff in meiner. Ich schob seinen Arm zurück unter die Decke und stieg hinauf in sein Bett, und so war ich ausnahmsweise für eine Nacht der Typ, der oben schlief. Seinen langsamen gleichmäßigen Atemzügen lauschend schlief ich ein. Am Ende hatte sein Dickkopf vor der unbezwingbaren Müdigkeit kapituliert.
Sechs Tage danach
Am Sonntag stand ich nach drei Stunden Schlaf auf und duschte zum ersten Mal seit langer Zeit. Ich zog meinen einzigen Anzug an. Fast hätte ich ihn nicht mitgebracht, aber meine Mom hatte darauf bestanden. Man weiß nie, wann man mal einen Anzug braucht. Und nun hatte sie recht behalten.
Der Colonel besaß keinen Anzug, und weil er so klein war, konnte er sich auch von keinem in Culver Creek einen ausleihen, und so zog er eine schwarze Stoffhose und ein graues Buttondown-Hemd an.
»Ich schätze, die Flamingokrawatte kann ich nicht tragen«, sagte er, als er sich schwarze Socken anzog.
»Bisschen zu aufgedonnert«, gab ich zu.
»In die Oper kann ich sie nicht anziehen«, sagte der Colonel und lächelte beinahe. »Auf die Beerdigung kann ich sie nicht anziehen. Aufhängen kann ich mich auch nicht damit. Für eine Krawatte ist es eine ziemliche Fehlkonstruktion.« Ich gab ihm eine Krawatte von mir.
Die Schule hatte Busse gemietet, um die Schüler nach Vine Station zu bringen, Alaskas Heimatort, doch Lara, der Colonel, Takumi und ich fuhren in Takumis SUV, und wir nahmen die Nebenstraßen, damit wir nicht an der Unfallstelle auf der Interstate vorbeifahren mussten. Ich starrte aus dem Fenster und sah zu, wie die Vororte von Birmingham im Norden in sanft gewellte Hügel und Felder übergingen.
Vorne erzählte Takumi Lara die Geschichte, wie in den Sommerferien jemand Alaskas Busen gehupt hatte, und Lara lachte. Damals hatte ich Alaska zum ersten Mal gesehen, und jetzt würde ich sie zum letzten Mal sehen. Mehr als alles schmerzte mich die Ungerechtigkeit, die unbestreitbare Ungerechtigkeit, eine Frau zu lieben, die mich vielleicht zurückgeliebt hätte, aber nicht konnte, weil sie tot war, und ich lehnte mich vor, drückte die Stirn an die Kopfstütze und weinte wimmernd, und ich spürte weniger die Trauer als den Schmerz. Es tat weh, und das ist keine Metapher. Es tat weh wie ein Schlag in den Unterleib.
Die letzten Worte von Meriwether Lewis waren: »Ich bin kein Feigling, im Gegenteil. Aber Sterben ist schwer.« Das will ich auf keinen Fall bestreiten, doch es kann nicht viel schwerer sein als das Zurückgelassenwerden. Ich dachte an Lewis’ Worte, als ich hinter Lara in die Kapelle mit dem spitzen Giebel trat, die zu dem einstöckigen Bestattungsinstitut von Vine Station gehörte – ein Ort, der genauso trostlos und deprimierend war, wie Alaska ihn immer beschrieben hatte. Es roch nach Schimmel und Desinfektionsmittel, und in den Ecken löste sich die gelbe Tapete von der Wand.
»Seid ihr wegen Miss Young da?«, fragte ein Mann den Colonel, und der Colonel nickte. Wir wurden in einen Saal mit Reihen von Klappstühlen geführt, der noch leer war bis auf einen alten Mann. Der Mann kniete im vorderen Teil der Kapelle vor einem Sarg. Der Sarg war geschlossen. Geschlossen. Ich würde sie nie wieder sehen. Nicht ihre Stirn küssen. Sie nie mehr sehen. Aber das musste ich
Weitere Kostenlose Bücher