Eine wie Alaska
doch, ich musste sie sehen, und als ich viel zu laut fragte: »Warum ist der Sarg zu?«, drehte sich der Mann, dessen Bauch sich unter dem zu engen Anzug wölbte, um und kam auf mich zu.
»Ihre Mutter«, sagte er. »Ihre Mutter hatte einen offenen Sarg, und Alaska hat zu mir gesagt: ›Du darfst niemandem erlauben, mich tot zu sehen, Daddy‹, und daran habe ich mich gehalten. Aber, mein Sohn, sie ist nicht dort drin. Sie ist beim Herrn.«
Und dann legte er mir die Hände auf die Schultern, dieser Mann, der dick geworden war, seit er das letzte Mal einen Anzug hatte tragen müssen. Ich konnte nicht glauben, was ich ihm angetan hatte. Seine Augen waren so grün wie Alaskas, doch sie lagen tief in den Höhlen wie bei einem grünäugigen Geist, der gerade noch atmet, und nein nicht stirb nicht stirb nicht stirb nicht, Alaska. Stirb nicht. Ich löste mich aus seiner Umarmung und ging an Lara und Takumi vorbei an den Sarg. Ich kniete mich hin und legte die Hände auf das polierte Holz, dunkles Mahagoni wie ihr Haar. Ich spürte die kleinen Hände des Colonels auf meinen Schultern, und eine Träne tropfte mir auf den Kopf, und für ein paar Augenblicke waren es nur wir drei – die Busse aus Culver Creek waren noch nicht angekommen, und Takumi und Lara waren im Hintergrund verblasst, und es waren nur wir drei – drei Körper und zwei Menschen – die drei, die wussten, was passiert war, und viel zu viele Schichten zwischen uns, viel zu viel, das uns voneinander trennte. Der Colonel sagte: »Ich will sie doch retten«, und ich sagte: »Chip, sie ist fort«, und er sagte: »Ich dachte, ich würde sie spüren, wie sie zu uns herabsieht, aber du hast recht, sie ist einfach fort«, und ich sagte: »Oh Gott, Alaska, ich liebe dich. Ich liebe dich«, und der Colonel flüsterte: »Es tut mir so leid, Pummel. Ich weiß, dass du sie geliebt hast«, und ich sagte: »Nein. Nicht in der Vergangenheit.« Sie war kein Mensch mehr, nur noch verwesendes Fleisch, doch ich liebte sie in die Vergangenheit hinein. Der Colonel kniete sich neben mich und drückte die Lippen an den Sarg und flüsterte: »Es tut mir leid, Alaska. Du hättest einen besseren Freund verdient.«
Sterben soll schwer sein, Mr. Lewis? Kann jenes Labyrinth wirklich noch schlimmer sein als dieses?
Sieben Tage danach
Am nächsten Tag blieb ich im Zimmer. Ich spielte Football auf lautlos, konnte weder nichts tun noch etwas tun. Es war der 16. Januar, der Tag der Ermordung von Martin Luther King, der letzte Tag, bevor der Unterricht wieder anfing, und ich konnte an nichts anderes denken, als dass ich sie getötet hatte. Der Colonel war am Morgen bei mir geblieben, dann hatte er beschlossen, in den Speisesaal zu gehen und Hackbraten zu essen.
»Gehen wir«, sagte er.
»Keinen Hunger.«
»Du musst was essen.«
»Wollen wir wetten?«, sagte ich, ohne den Blick vom Bildschirm zu heben.
»Mann. Na schön.« Er seufzte und ging und schlug die Tür hinter sich zu. Er ist immer noch sehr wütend , dachte ich unwillkürlich und spürte so etwas wie Mitleid mit ihm. Kein Grund für Wut. Wut lenkt dich nur ab von der allumfassenden Trauer und dem untrüglichen Wissen, dass du sie umgebracht hast, dass du ihr Leben und ihre Zukunft auf dem Gewissen hast. Wut macht es nicht wieder gut. Verdammt.
»Wie war der Hackbraten?«, fragte ich, als der Colonel zurückkam.
»Wie immer. Weder Fisch noch Fleisch.« Der Colonel setzte sich neben mich. »Der Adler hat mit mir gegessen. Er wollte wissen, ob wir die Böller gezündet haben.« Ich drückte auf Pause und sah ihn an. Er zupfte an dem letzten Rest des blauen Vinylbezugs unseres Schaumstoffsofas herum.
»Und was hast du gesagt?«
»Ich hab nichts verraten. Er sagte, ihre Tante oder so kommt morgen, um ihr Zimmer auszuräumen. Also, wenn irgendwas dort ist, was uns gehört, irgendwas, was ihre Tante nicht finden soll …«
Ich wandte mich wieder dem Bildschirm zu und sagte: »Ich kann das nicht.«
»Dann mache ich es allein«, antwortete er. Er stand auf und ging raus, die Tür ließ er offen, und die frostigen Ausläufer des Kälteeinbruchs, die hereinkrochen, hatten die Heizung schnell besiegt. Ich drückte auf Pause und stand auf, um die Tür zu schließen, und als ich den Kopf rausstreckte, um zu sehen, ob der Colonel schon an ihrem Zimmer war, stand er noch vor unserer Tür, packte mich am Sweatshirt, lächelte und sagte: »Ich wusste, dass du mich das nicht alleine machen lässt. Ich wusste es.« Ich schüttelte den
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