Eine wie Alaska
alten gepinkelt hat, sehen aus wie Clownsschuhe. Ich denke an Alaskas Flipflops und wie sie an ihren blau lackierten Zehen baumelten, als wir unten beim See auf der Schaukel saßen. Wird der Sarg offen sein? Kann der Leichenbestatter ihr Lächeln rekonstruieren? Ich höre immer noch, wie sie sagt: »Das macht Spaß, aber ich bin so müde. Machen wir morgen weiter?«
Die letzten Worte des Predigers Henry Ward Beecher waren: »Hier beginnt das Geheimnis.« Der Dichter Dylan Thomas, der mindestens so gerne trank wie Alaska, sagte: »Ich habe achtzehn Whiskey pur getrunken. Ich glaube, das ist mein Rekord«, dann starb er. Alaskas Lieblingsdramatiker war Eugene O’Neill: »In einem Hotelzimmer geboren, und – verflucht noch mal – in einem Hotelzimmer gestorben.« Sogar von Unfallopfern sind letzte Worte überliefert. Prinzessin Diana sagte: »Oh Gott. Was ist passiert?« Der Filmstar James Dean sagte: »Der muss uns doch sehen«, bevor er mit seinem Porsche in ein anderes Auto raste. Ich kenne so viele letzte Worte. Aber ihre werde ich nie kennen.
Erst ein paar Schritte weiter merke ich, dass der Colonel hingefallen ist. Ich drehe mich um, und er liegt flach auf dem Gesicht. »Wir müssen aufstehen, Chip. Wir müssen aufstehen. Wir müssen zurück in unser Zimmer.«
Der Colonel hebt den Kopf und sieht mich an und keucht: »Ich. Kann. Nicht. Atmen.«
Doch er kann atmen. Das sehe ich daran, dass er hyperventiliert, er atmet so schnell, als versuchte er, die Toten zu beatmen. Ich helfe ihm auf, und er hält sich an mir fest und fängt an zu schluchzen und sagt: »Es tut mir leid«, immer und immer wieder. Wir haben uns noch nie umarmt, der Colonel und ich, und ich kann ihn nicht trösten, denn es sollte ihm leid tun, und so lege ich ihm die Hand auf den Kopf und sage das einzig Richtige: »Es tut mir auch leid.«
Zwei Tage danach
Nachts machte ich kein Auge zu. Die Dämmerung kam unendlich langsam, und selbst als sie endlich da war und die Sonne grell durch die Jalousien schien, schaffte es die alte Heizung nicht, uns aufzuwärmen. Der Colonel und ich kauerten wortlos auf dem Sofa. Er las im Atlas.
Am Abend hatte ich der Kälte getrotzt, um meine Eltern anzurufen, und dieses Mal, als ich sagte: »Hallo, hier ist Miles«, und meine Mutter fragte: »Was ist passiert? Geht es dir gut?«, konnte ich getrost sagen, nein, es ging mir nicht gut. Dann nahm mein Dad den zweiten Hörer ab.
»Was ist passiert?«, fragte er.
»Schrei nicht so«, sagte meine Mutter.
»Ich schreie nicht, das ist das Telefon.«
»Na, dann sprich leiser«, sagte sie. Es dauerte eine Weile, bis ich was sagen konnte, und als ich dann dran war, brauchte ich einen Moment, bis ich es schaffte, die Worte auszusprechen –, dass meine Freundin Alaska bei einem Autounfall ums Leben gekommen war. Ich starrte die Zahlen und Nachrichten an, die an die Wand gekritzelt waren.
»Oh, Miles«, sagte Mom. »Es tut mir so furchtbar leid, Miles. Sollen wir dich abholen?«
»Nein«, sagte ich. »Ich will hier sein … Ich kann es gar nicht glauben«, was zum Teil immer noch stimmte.
»Das ist ja entsetzlich«, sagte mein Dad. »Ihre armen Eltern.« Ihr armer Vater , dachte ich und fragte mich, wie es ihm ging. Es lag jenseits meiner Vorstellungskraft, was meine Eltern täten, wenn ich gestorben wäre. Betrunken am Steuer. Oh Gott, wenn ihr Vater das je rausfand, er würde den Colonel und mich in Stücke hacken.
»Können wir irgendwas für dich tun?«, fragte Mom.
»Nein, es war mir nur wichtig, mit euch zu sprechen.« Hinter mir hörte ich ein Schniefen – ob jemand fror oder weinte, ließ sich nicht sagen –, und so verabschiedete ich mich von meinen Eltern. »Hier wartet jemand auf das Telefon. Ich muss los.«
Die ganze Nacht war ich vor Angst wie gelähmt. Doch wovor fürchtete ich mich eigentlich? Es war bereits passiert. Sie war tot. Sie war warm und weich auf meiner Haut, meine Zunge in ihrem Mund, und sie lachte und versuchte, mir was beizubringen, wollte mit mir üben, versprach, dass wir weitermachen würden. Und dann.
Und jetzt wurde sie von Stunde zu Stunde kälter, toter mit jedem Atemzug, den ich nahm. Ich dachte: Das ist die Angst. Ich habe was Wichtiges verloren, und ich finde es nicht mehr, dabei brauche ich es. Die lähmende Angst eines Kurzsichtigen, der seine Brille verliert und dann erfährt, dass es ab heute keine Brillen mehr gibt auf der Welt.
Kurz vor acht sagte der Colonel ins Leere: »Ich glaube, es gibt Bufritos
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