Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Bursche, und sein knochiges Gesicht trug einen zugleich herrischen und kindlichen Ausdruck. Er hatte sämtlichen Rowdys und Helden im Viertel Respekt eingebläut, und alle fürchteten ihn. Er hatte schon öfter bei der Polizei genächtigt, weil er einem von ihnen die Knochen weichgeschlagen hatte. Er wohnte seit einigen Monaten hier, und seine Vergangenheit lag im Dunkeln. Es hieß, er sei in Odessa Anführer einer Diebesbande gewesen und habe ein paar Morde begangen. Aber das waren unbewiesene Gerüchte, die man durchaus anzweifeln konnte, obwohl ihm derlei Taten seinem Wesen nach zuzutrauen waren. Man erzählte sich auch, er habe während der Pogrome ein Blutbad unter den Angreifern angerichtet, die in das Viertel Moldawanka eingefallen waren, er und seine sechs Kumpane.
Rost war er besonders zugetan, und so nahm er ihn unter seine Fittiche. Die kommenden Tage arbeitete Rost mit Jascha. Er putzte, schmirgelte Wände und Decken ab, mischte Farben, trug volle Farbeimer, lernte einen Malerpinsel halten,schob morgens und abends die Schubkarre mit der Leiter und den übrigen Werkzeugen. Jascha schmetterte bei der Arbeit »Mein Tate is a Schwarawasnik« – »Mein Vater ist ein Dreckarbeiter« und Ähnliches mehr, und die leeren Räume hallten davon.
Der Frühling floss mächtig durch die Stadt, strömte durch die offenen Fenster in die Häuser. Die Dienstmädchen und die Kinderfrauen in ihren weißen Schürzen rochen nach Mühe und Arbeit und dachten ans Elternhaus, und das Leben war glasklar, zum Greifen nah. Rost stimmte unwillkürlich in »Mein Tate is a Schwarawasnik« und Jaschas andere Lieder ein. Als er eines Abends mit ihm und der fetten Fritzi im Kino saß, schob sie im Dunkeln die Hand zu ihm rüber. Rost gebot ihr Einhalt. In solchen Dingen legte man sich besser nicht mit Jascha an.
Er nächtigte weiter verstohlen auf dem Sofa im Zimmer von Schewtel und Jankel Marder. Dann war die Arbeit beendet. Jankel Marder und Schewtel konnten endlich die Reise nach Rotterdam fortsetzen. Rost hatte jetzt etwas Geld und mietete ein Zimmer zusammen mit Beril Kanfer, einem jungen Mann mit mädchenhaften Zügen. Dieser Bursche lebte von einem zerquetschten Finger. Er hatte zwei Monate in einer Fabrik gearbeitet, wo das Glück ihm lachte und er sich einen Finger zerquetschte. Seither lebte er auf Kosten der Krankenkasse und wartete auf die Entschädigung, die er von den Fabrikbesitzern für den zerquetschten Finger erhalten sollte, um dann in die Schweiz zu fahren und sein Glück als Kaufmann zu versuchen. Vorerst verbrachte Beril Kanfer den Großteil seiner Tage im Achdut beim Teetrinken und beim Diskutieren mit Markus Schwarz, dem Dramaturgen, der wohl daran dachte, ihn als Figur in einem seiner geheimnisvollen Dramen zu verwenden.
Markus Schwarz war mit allen Requisiten eines Dramaturgenausgestattet: schwarzem Hut mit reifengroßer Krempe, langem Haar, Backenbart, Hornbrille, fliegender Krawatte, Samtmantel und gestreifter Hose, schwarzen Lackschuhen, Ring mit Totenkopf, originellem Gehstock, einer Tasche voller Dramen, einem schwarzen und einem roten Stift und einem Buch über den Aufbau eines Dramas. Gewöhnlich ging er im Park spazieren, die Tasche mit den Dramen unterm Arm und ein aufgeschlagenes Buch in der Hand, in dem er im Gehen las und alle Augenblick mit dem Rotstift etwas unterstrich und mit Frage- oder Ausrufezeichen versah, je nachdem, ob er die betreffende Stelle für schwer verständlich oder beachtenswert hielt. Ständig führte er Sophokles, Aischylos, Goethes »Faust«, Shakespeare, Hauptmanns »Die Weber« und anderes im Munde und flocht es in jede Unterhaltung ein. Seine Dramen hatten schon unzählige Male kurz davor gestanden, in verschiedenen Theatern in Berlin und auch hier »auf die Bühne zu kommen«, erzählte er jedem, der es hören wollte, aber immer hatte die Zensur ihm die Sache verdorben … Ewige Feindschaft herrschte zwischen ihm und Gott; in seinen Dramen, die keiner seiner Bekannten je gesehen hatte, richtete er bei jeder Gelegenheit heftige Worte himmelwärts, und die Zensur, natürlich, in derlei finsteren Staaten … Man konnte sagen, er lebte geradewegs von der Zensur, die sein Widersacher war, denn ohne sie hätte er keine Ausrede mehr gehabt. Erst gestern hatte er sich mit Forst, dem Direktor des Volkstheaters, getroffen, und der hatte ihm zugesagt, in spätestens zwei Monaten, noch in dieser Theatersaison. Man höre und staune! Er hoffte, diesmal würde die Zensur ihm nicht ins
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