Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
schwebte im Käfig zwischen den beiden Fenstern. Im Zimmer hing ständig ein leichter Geruch von modrigem Holz, kaltemKaffee, alten Leuten. Die Fenster blickten auf einen großen Platz mit Pumpe und Brunnentrog. Dreimal in der Woche war dort vormittags Wochenmarkt, und die Frauen gingen mit Taschen voll Gemüse vorbei. Aber nachmittags war der Platz leer, Jungs spielten dort Fußball, und ein paar Tauben pickten herum.
Die alte Frau bereitete sich auf die Übersiedlung in ein Altersheim vor. Heute oder morgen würde ihr Sohn kommen und die Sache mit der Wohnung und den Möbeln klären. Unterdessen forderte sie von morgens bis abends die Miete ein, und Rost vertröstete sie mit der Versicherung, heute oder morgen werde er per Post Geld von seinen Eltern erhalten. Gelegentlich lud sie ihn zu dem faden Kaffee ein, den sie einmal für die ganze Woche im Voraus kochte, und erzählte ihm zahnlos Episoden über ihren Mann, der vor zwanzig Jahren gestorben war, und über ihr Witwendasein. Dabei richtete sie schwache Blicke zu einem kleinen Jesus aus Bronze, der an seinem Kreuz über dem Ehebett hing, den knochigen Kopf auf die Schulter gelegt. Sie sagte: »Bald wird auch mein Tag kommen. Die lahmen Knochen taugen zu nichts mehr. Alles ist schon bereit. Es wird eine schöne Beerdigung.«
Rost konnte den Todeshauch nicht ertragen und saß nur selten zu Hause.
Eines Tages blieb er vor dem Schaufenster eines Bekleidungsgeschäfts stehen und besah sich einen hellgrauen Anzug auf einer Wachspuppe mit dümmlichem Gesicht. Sein Anzug war schon abgetragen, und es wurde Zeit für einen neuen.
»Welches Kleidungsstück dort gefällt Ihnen?«, fragte jemand neben ihm.
Rost drehte sich um. Ein schnauzbärtiger Mann lächelte ihn an.
»Was geht Sie das an?«
»Ich wollte Sie nicht kränken. Ich meine nur, eine solche Angelegenheit verdient nicht mehr als zehn bis fünfzehn Minuten Aufmerksamkeit – für Auswahl, Anprobe und Kauf.«
»Sehr schlau«, bemerkte Rost scherzhaft und musterte den Fremden. Sein Gesicht war nicht unsympathisch. Es hatte etwas unaufdringlich Gewinnendes.
Der andere sagte: »Ich bin ein praktischer Mensch, mit Verlaub.«
»Und wenn der Mensch kein Geld hat?«
»Ah, Geld! Sie denken sicher, das sei das Wichtigste beim Anzugkauf.«
Rost löste sich vom Fleck. Der Mann ging neben ihm her. Die Allee wimmelte zu dieser Nachmittagsstunde von Menschen, darunter geschniegelte Armeeoffiziere und elegante Damen. Aus den Kaffeehäusern drangen süße, melancholische Walzerklänge, die sich mit dem Straßenlärm mischten.
»Rauchen Sie?«, fragte der Mann.
»Wenn ich was habe.«
»Wenn Sie möchten, kehren wir hier ein«, er deutete auf ein elegantes Kaffeehaus, an dem sie gerade vorbeikamen.
Rost trank eine heiße Schokolade und aß Kuchen. »Erlauben Sie mir noch ein Stück Kuchen zu bestellen? Ich bin ein bisschen hungrig.«
Der Fremde saß ihm gegenüber und beobachtete Rost, der mit sichtlichem Appetit kaute. Sein Gesicht war intelligent, und die strenge, kantige Stirn zeugte von Entschlossenheit, vielleicht auch einiger Hartnäckigkeit. Sein dichtes, über der Stirn etwas borstig geschnittenes Haar war an den Schläfen schon graumeliert. Er mochte vierzig sein. »Und jetzt zu dem Anzug«, begann der Fremde zögernd. Rost hörte auf zu essen. Wohlige Trägheit ergriff ihn. Schon lange hatte er nicht mehr so gut gespeist.
»Dem Anzug?«
»Sie können ihn natürlich bekommen. Nichts leichter als das! Sie gehen rein, probieren an und kaufen.«
Rost sah ihn prüfend an. Ein komischer Mensch! Entweder war er nicht ganz richtig im Kopf, oder er verfolgte verborgene Absichten. Jedenfalls empfahl es sich, das Ende abzuwarten. Rost war nicht der Typ, der vor Abenteuern zurückschreckte. Genau dazu war er ja in die weite Welt gezogen.
»Es wird Ihnen komisch vorkommen«, sagte der andere, als hätte er Rosts Gedanken gelesen, »weil es unüblich ist. Das werden Sie zugeben. Aber gerade deshalb! Meine Taten sind nicht mit normalem Maß zu messen. Es gelten andere Regeln – meine eigenen.« Er reichte Rost eine Zigarettenschachtel. »Sie gehören nicht zu den Toren, junger Freund. Das erkennt man auf den ersten Blick. Und Sie wollen also einen neuen Anfang machen. Das ist so leicht wie schwierig, je nach Ihrem Ausgangspunkt. So habe ich auch einmal angefangen, genau in Ihrem Alter, vom Nullpunkt. Wie haben Sie sich den Anfang gedacht, wenn ich fragen darf ?«
»Ich weiß es noch nicht. Ich warte auf eine
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