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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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Miene, und er schwankte beim Gehen wie ein Seemann. Er druckste eine Weile herum, als ob er etwas sagen wolle, bis er schließlich heraussprudelte: »So eine alte Nutte! Man hätte sie bei der Polizei anzeigen sollen!« Rost musterte ihn einen Moment schweigend. Dann lachte er schallend los: »Eine schöne Bescherung!«
    »Was lachst du denn, du Bestie! Du bist schuld an allem!«
    »Ich? Wie das? Ich kenne sie überhaupt nicht! Ich habe nie ein Wort mit ihr gewechselt! Geh sofort zum Arzt!«
    »War ich schon.«
    »Und?«
    »Die Heilung dauert zwei bis drei Monate.«
    »Dann ist es doch gar nicht so schlimm! Danke Gott, dass du so billig weggekommen bist!«
    »Billig, billig!«, äffte ihn Kanfer mit verzerrtem Mund nach. »Ich muss dafür leiden! Du wurdest zum Stelldichein gerufen und hättest hingehen sollen! Warum schickst du andere an deiner Stelle?«
    »Es hat dich kein Mensch gezwungen. Wer auf Vergnügen aus ist, zahlt dafür!«
    Darauf streckte Beril Kanfer sich auf seinem Bett aus und schwieg niedergeschlagen.Jascha aus Odessa erzählte die Geschichte hinterher im Achdut im Beisein der fetten Fritzi und einiger Stammgäste und schloss wiehernd in seinem dröhnenden Bariton: »Was für ein Schlawiner, dieser Rost! Der wird noch auf dem Schafott enden, hahaha!« Nur wenige Tage später verschwand Resl aus dem Kreis der Dienstmädchen im Achdut, und Reb Chaim Stock schlich sich jeden Nachmittag zu einer festen Zeit davon. Er litt an einer »Magenerkrankung«, die zwei bis drei Monate Behandlung erforderte.

2
    Der Frühling hatte schon mit aller Macht im Land Einzug gehalten. Die Stadt und ihre Bewohner waren sorgfältig geschniegelt und gebügelt. Die Frauen wirkten hübscher, nett anzusehen in ihren violetten und lila Kleidern. Die Kaffeehausterrassen waren voll besetzt mit adretten Müßiggängern, die ihrer Zeit und ihres Tuns Herr waren, denen der Morgen gehörte, der Mittag und der Abend, ohne fremde Beteiligung. Die meisten zählten zur Gesellschaftsschicht jener Leute, die sich nur um ihr hohles Dasein, ihr Wohlbefinden und ihr Vergnügen sorgen. Alles wird von anderen für sie erledigt, und sie selbst tun gar nichts. Meist plagt sie tiefe Langweile, vor der es kein Entrinnen gibt. Das Erlaubte war ihnen schon wohlbekannt und einiges vom Verbotenen ebenfalls. Und nun saßen sie einen Frühlingsnachmittag auf den Kaffeehausterrassen, die Kapelle spielte melancholisch-süße Walzer, um ihnen die Langeweile zu zerstreuen, und sie versuchten, einen leeren Abend mit verlockend neuem Inhalt zu füllen.
    Rost erinnerte sich an die letzte Zeit in der Straße seiner Kindheit, durch die tagtäglich vom Morgengrauen bis zum Feierabend Bauernwagen in langer Reihe rumpelten, hochbeladen mit Zuckerrüben für die Zuckerfabrik am Stadtrand, an jene Leiterwagen, gezogen von zwei kleinen, verschwitzten, heftig schnaufenden Pferden, an das Quietschen der Räder unter der Last und an die Bauern, die gemäßigten Schritts nebenhergingen, schicksalsergeben starken Tabak rauchten oder Graubrot mit Schweineschmalz verzehrten oder auch schwammige, gelb-grüne Kurkuma-Bonbons. All das hatte bei Rost damals den Eindruck ewigwährender, öder Arbeit von Mensch und Tier geweckt, einer Plackerei ohne Anfang und Ende. Jungs lauerten an den Straßenrändern, um die begehrten rotgelben Zuckerrüben aufzulesen, die von den Wagen rollten, und manche hatten auch Stangen mit einer Nagelspitze am Ende dabei, um die Rüben damit von den Karren zu angeln. Wurden sie auf frischer Diebestat ertappt, flohen sie in Höfe, Seitengassen und Tore, verfolgt von den heftigen Flüchen der Bauern, denen es niemals gelang, der leichtfüßigen Lausbuben habhaft zu werden. So fuhren die Rübenkarren unaufhörlich weiter, tagaus, tagein in ewig gleichem Tempo, rollten von fernen Feldern zur Fabrik, deren morgens, mittags und abends pünktlich schrillende Sirene die Zeit jener Stadtbewohner einteilte, die keine Uhr besaßen, und die Stricke schürften an Brust und Rippen der Pferde, deren Haut durch die Reibung längst beiderseits kahl und dünn gescheuert war.
    Jetzt schleppte er sich durch die Straßen der Innenstadt. Er war hungrig. Seit kurzem wohnte er in dem einzigen Zimmer einer alten Frau von fünfundsiebzig Jahren, die schütteres weißes Haar und einen zahnlosen Mund hatte. Er schlief auf dem Sofa, die Alte im Ehebett aus schwerem, altem Holz, das kreisrunde Kopf- und Fußenden hatte und immer hoch mit Bettzeug beladen war, und der Kanarienvogel

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