Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
wollte nicht weiterspielen, vielleicht ein andermal. Er verabschiedete sich von der Gruppe und ging. An diesem Abend hatte er an die vierzig Kronen eingenommen.
Rost schlenderte langsam durch die spärlich erleuchteten nächtlichen Gassen und grübelte, wie leicht es doch eigentlich war, zu Geld zu kommen, und wie es seinen Wert einbüßte,sobald man es erst in der Tasche hatte! Vorgestern noch war er blank wie eine Marmorstatue gewesen und hatte sich auf den kalten Kaffee der alten Frau Messerschmitt gefreut, der nach Tod und Verschleiß roch, und jetzt hatte er ein prächtiges Zimmer bei einer adretten jungen Frau, schöne Kleider und das nötige Kleingeld.
Als er die Kanalbrücke überquert hatte und in eine innerstädtische Straße eingebogen war, hörte er hastige Schritte hinter sich. Gleich darauf packte ihn jemand am Arm. Er drehte sich um und sah in Jans verhärmtes Gesicht mit dem geschlossenen Auge, das tief in seiner Höhle lag.
Rost schüttelte die Hand angewidert ab. »Ja was?«
»Ich habe an die dreißig Kronen verloren.«
»Mag sein.«
»Dieses Geld wirst du mir jetzt zurückgeben«, sagte Jan ruhig.
»Gibst du auch denen, die gegen dich verloren haben, was zurück?«
»Nein.«
»Und du meinst, ich würde dir was zurückgeben?«
»Da bin ich sicher.«
»Du irrst.«
Sie standen an einer Straßenecke vor einer großen Buchhandlung, in deren rollladenfreien Schaufenstern große Bände im Licht einer Straßenlaterne zu sehen waren. Zur Linken ging eine schlecht beleuchtete Gasse ab.
»Siehst du dieses Auge?« Jan deutete auf die leere Höhle in seinem Gesicht. »Der es mir blind gemacht hat, wurde später tot aufgefunden. Erstochen.«
Rost wandte sich zum Gehen.
»Warte, mein Freund! Wir sind noch nicht fertig.« Jan umschloss seinen Arm mit sehniger Hand wie mit einer Zange.
»Lass los!«
»Gib das Geld zurück, du Hund!«
»Lass los, und ich geb’s dir!«, rief Rost und schlug blitzschnell und mit aller Kraft die Faust auf Jans einziges sehendes Auge. Im Bruchteil einer Sekunde hörte er noch den Ächzer, den der andere ausstieß, und sah ihn beide Hände vors Gesicht schlagen. Rost floh in die Seitengasse, rannte an die zehn Minuten von einer menschenleeren Gasse in die nächste und verlangsamte dann seine Schritte. Keiner war hinter ihm her.
Der hat eine Lektion erhalten!, sagte er sich aufatmend. Er war nicht weit vom Schottentor und machte sich auf zum Ring. Er beschloss, zu Fuß zu gehen. Der laue Frühlingsabend sickerte in die Seele, aromatisch und berauschend wie süßer, schwerer Wein. Seine rechte Hand spürte noch vage den Zusammenstoß mit Jans Visage. Er empfand leichte Abscheu wegen der Berührung mit jenem unsympathischen Mann, einer körperlichen Berührung. Doch der Elan, den dieser Zwischenfall bei ihm entfacht hatte, war noch nicht völlig verebbt, weder durch den Faustschlag noch durch den nachfolgenden Dauerlauf. Er musste jetzt etwas tun, um die überschüssigen Energien loszuwerden, um sich zu befreien.
Zunächst sprach er einen Polizisten an und fragte ihn nach einer Straße, die er gar nicht suchte. Der Polizist erklärte ihm den Weg höflich und präzise, ohne dass Rost hinhörte, wo sich diese Straße befand und wie man dort hingelangte. Danach ging er in ein Kaffeehaus, wo er kalten Kalbsbraten aß und Bier trank. Ein aufgeputztes junges Mädchen, das allein am Nebentisch saß, warf ihm einladende Blicke zu und lächelte. Rost beachtete sie nicht. Er zahlte und verließ das Kaffeehaus. Es war nicht mehr weit bis zu seiner Straße. Er setzte seinen Weg auf der Ringstraße fort, durchquerte die Grünanlage auf dem Karlsplatz, wo junge Liebespaare auf lauschigen Bänken saßen, und ginghinter der Kirche vorbei, die sich traumhaft vom dunklen Himmel abhob. Vor seiner Haustür stieß er auf seine Wirtin, Frau Stift, in Begleitung eines kerzengeraden jungen Mädchens von schätzungsweise sechzehn Jahren. Frau Stift stellte sie lächelnd vor: »Meine Tochter Erna.«
»Ihre Tochter?«, staunte Rost. »Ich hätte sie für Ihre Schwester gehalten.«
»Wie Sie sehen, bin ich nicht mehr so jung«, sagte Frau Stift leicht kokett.
»Das ist kein Beweis.«
Der Pförtner klimperte drinnen mit den Schlüsseln und schloss dann die Tür auf. Zu dritt gingen sie in die zweite Etage. Als sie das Licht im Flur anschalteten, warf er einen flüchtigen Blick auf Erna, die ihn nicht beachtete, ihn keines Blickes würdigte. Sie hatte herrliche blaue Augen und pechschwarzes
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