Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Nacht, die ihm fern und unwirklich erschien. Ein zufriedenes Lächeln trat auf seine Züge. Er sprang zu dem Kleiderhaufen auf dem Boden und zog sich flink an. Dann schob er den Vorhang zur Seite, und mit einem Schlag strömte ein Schwall von Sonne und praller, saftiger Lebensfreude ins Zimmer. In der Nachbarschaft sang eine zarte, reine Frauenstimme ein fröhliches Lied, und weiter entfernt lärmte und rauschte die Großstadt. Es tat gut zu leben, die Luft eines so herrlichen Tages zu atmen. Er fühlte sich gesund, jung, frei, fähig, die ganze Welt zu erobern. Keine Macht auf Erden konnte ihm im Wege stehen. Alles war zum Greifen nah, man brauchte nur die Hand danach auszustrecken.
Im Flur traf er Erna Stift und wünschte ihr einen guten Morgen. Das Mädchen näselte etwas und ging an ihm vorüber. »Grüßen Sie grundsätzlich nicht zurück?«, rief er ihr in scherzhaftem Ton nach. Erna blieb stehen und wandte den Kopf.
»Was für eine Penetranz!«
»Wenn Sie es für penetrant halten, werde ich Sie nicht mehr grüßen.«
»Ich kenne Sie überhaupt nicht. Wer sind Sie denn!«
»Ich? Freiherr von Rost zu Kreltein, gnädiges Fräulein …«
»Depp!«, schleuderte Erna ihm entgegen und schlüpfte in ihr Zimmer. Rost brach in schallendes Gelächter aus. Die Salontür ging einen Spalt auf, und Gertrud Stift steckte den Kopf heraus. »Warum lachen Sie so?«
»Mir ist gerade ein Witz eingefallen.«
Sie zwinkerte ihm zu. Als er ihr nahe kam, heftete sie ihre Lippen an seinen Mund und flüsterte: »Heute Abend, mein Geliebter, ja!«, und schloss die Tür wieder.
3
Zur vereinbarten Uhrzeit saß Rost im Kaffeehaus am Fenster. Er blickte hinaus auf das Getriebe der Passanten und Tramwagen auf der belebten Straße, auf das graue Pflaster, das noch feucht glänzte vom Regen, der vorher gefallen war. Jetzt schien er aufgehört zu haben, denn keiner hatte mehr den Schirm aufgespannt. Rost war neugierig. Begierig, diesen sonderbaren Mann, der nun kommen sollte, kennenzulernen, etwas über seine Einstellung und Wesensart zu erfahren und über den Fortgang ihrer Beziehungen. Doch seine Neugier war die eines unbeteiligten Beobachters. Neugierig war er natürlich auch auf sich selbst, auf den weiteren Verlauf seines Lebens, die Formen, die es annehmen würde. Er wusste, dass viel vom Willen abhing, wusste aber auch, dass es darüber hinaus auf den richtigen Moment ankam, den man nicht immer voraussehen und erkennen konnte.
Peter Dean trat ein. Er sah Rost und lächelte ihm von weitem zu, über die besetzten Tische hinweg. Dann kam er heran und setzte sich gemächlich Rost gegenüber. »Die Dinge laufen also, wie sie sollen, junger Freund?«
Er zog ein dickes Zigarrenetui aus teurem Leder hervor und klappte es vor Rost auf. Dann kappte er das Ende einer dicken, kurzen Zigarre mit einem kleinen Taschenmesser und steckte sie in den Mund. Die angezündete Zigarre verströmte einen höchst angenehmen Duftschwall, der sich mit dem Aroma des dampfenden Kaffees vermischte.
Rost empfand plötzlich aufbrandende Freundschaft zu diesem Mann mit den kleinen, klugen Augen, der ohne Hast an seinem Kaffee nippte und zwischendurch gelegentlich an seiner Zigarre zog. Vor seinen Augen leuchtete kurz das Bild von Telegrafenmasten in dunkler Nacht auf. Danach erzählte er ihm in knappen Worten von dem Zimmer, das er gemietet hatte, unter Auslassung des intimen Teils mit der Zimmerwirtin, die er jetzt im Stillen Gertrud nannte, ohne Anfügung des Familiennamens. Peter Dean hörte schweigend zu.
In der nahen Fensternische saß ein Paar, das sich in verhaltenem Zorn leise stritt. Rost konnte nur die flammenden Züge der Frau sehen, die in der Aufregung noch anmutiger wurden. Sie redete rasend schnell, fauchte abgehackte, gequetschte, giftsprühende Worte, die sich zorneslustig jagten. Ihre Bedeutung verstand er nicht. Ihr Gesprächspartner, der ihr, mit dem Rücken zu Rost, gegenübersaß, unterbrach sie nur mit wenigen Worten.
Dean sagte: »Was interessiert Sie besonders?«
»Alles. Ich bin neugierig.«
»Möchten Sie studieren?«
»Was studieren?«
»Ich weiß nicht, Wissenschaften oder so.«
»Dazu habe ich keine besondere Neigung. Und was die gesellschaftlichen Konventionen angeht, komme ich gut ohne sie aus.«
»Wer sich den Regeln der Gesellschaft entzieht, muss fähig sein, seine eigenen Regeln zu setzen. Mein Vater war nichtarm, aber er hat mir gesagt: Jeder Mensch muss sich selbst erfinden, du Teufelskerl! Und da bin ich in die
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