Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Haar. Rost wünschte eine »angenehme Ruhe« und betrat sein Zimmer. Es war ihm nicht entgangen, dass Erna nur abfällig das Gesicht verzogen hatte, ohne seinen Gruß zu erwidern.
Es war kurz vor elf Uhr. Rost war noch nicht müde. Er ging ein bisschen im Zimmer auf und ab, betrachtete die einzelnen Möbelstücke und eine Gruppe Fotografien, die einige im Stil des 19. Jahrhunderts gekleidete Frauen und einen schnauzbärtigen Husarenoffizier zeigten. Dann trat er ans offene Fenster und lugte einige Zeit auf die menschenleere Straße, durch die ein leiser Frühlingshauch wehte. Der Lärm der Großstadt gelangte nur gedämpft hierher, watteweich, gewissermaßen ohne Eigenwesen. Im Haus gegenüber wurde das Licht gelöscht, und zwei Fenster erblindeten. »Ah, Zeit zum Schlafengehen!«, sagte Rost, hörbar enttäuscht. In diesem Augenblick klopfte es an der Tür. Frau Stift öffnete und trat ein. Sie blieb kurz an der Schwelle stehen, in einem orangefarbenen Morgenrock, der ihrem wohlgeformtenKörper schmeichelte. »Ich wollte nur fragen, ob Sie noch etwas brauchen. Das Dienstmädchen schläft schon.« Dabei huschte ein Lächeln über ihr Gesicht, das nichts mit ihren Worten zu tun hatte.
Rost war leicht verwirrt. »Ob ich etwas brauche … das heißt …«
Frau Stift blieb lächelnd an der Tür stehen. Dann zog sie ihren Morgenrock enger um den Leib. Ihre Füße steckten in hochhackigen Hausschuhen.
Rost rückte einen Sessel vom Tisch. »Vielleicht möchten Sie ein wenig Platz nehmen.« Sie trat näher und setzte sich aufs Sofa.
»Habe ich Sie gestört? Wollten Sie sich schon hinlegen?«
»Nein, keineswegs. Es ist mir ein Vergnügen, ich bin überhaupt nicht schläfrig!«
»Wenn mein Mann zu Hause ist, gehen wir ja immer um elf Uhr ins Bett, von Ausnahmen abgesehen. Er liebt einen festen Tagesablauf.«
»Und wo ist er jetzt, wenn man fragen darf ?«
»Er ist geschäftlich für drei Wochen nach Klagenfurt gefahren. Setzen Sie sich doch. Warum sollten Sie stehen?«
Rost rückte einen Stuhl ans Sofa und setzte sich ihr gegenüber.
»Und ich bin eine Nachtschwärmerin«, sagte Frau Stift lächelnd. Scheinbar geistesabwesend zog sie ihre Rockschöße über den Schenkeln gerade. Rost sah ein Stück splitternackte Haut unter dem Morgenrock. Ein kalter Schauder lief ihm über den Rücken. Er wollte krampfhaft etwas sagen, und sei es auch nur etwas Dummes, aus der Luft Gegriffenes, aber die Stimme versagte ihm. Ein Kloß würgte ihn im Hals. Frau Stift versengte ihn schier mit Augen, die wie zwei glühende Kohlen glommen, und lächelte unablässig. Es wurde plötzlich unerträglich heiß im Zimmer, und doch fröstelte Rost so sehr, dass ihm die Zähne klapperten. Das Schweigenwurde beklemmend. Nichts regte sich. Mit einem Ruck löste er sich aus der drückenden Starre, stand auf, tat einen Schritt in die Zimmermitte, machte aber sofort wieder kehrt und setzte sich. Mit erstickter Stimme murmelte er seltsamerweise: »Gewiss!« – ein verwaistes Wort, das schlaff in der Luft hängenblieb und sich mit nichts verbinden ließ. Dann erkannte er selbst sein lächerliches Verhalten und wurde wütend auf sich.
»Sie sind sicher aus Ungarn«, sagte er lauter als sonst.
»Warum gerade daher?«
»Ah, nur so. Hatte ich gedacht.«
»Meine Eltern stammten aus Triest.« Sie lehnte sich im Sofa zurück. Rosts Blick lag auf ihren fleischigen Lippen, ihrem V-Ausschnitt und ihrem Busen.
»Wie jung Sie sind!«, sagte sie.
»Nicht so jung. Neunzehn Jahre«, machte er sich ein Jahr älter, in dem vagen Verdacht, sie könnte ihn wegen seines jugendlichen Altern geringschätzen.
»Setzen Sie sich hierher«, sagte sie unvermittelt, »aufs Sofa.« Rost tat wie geheißen. Sie brachte ihr Gesicht ganz nah an seines und sah ihm tief in die Augen. »Mein großer Junge!«, stieß sie etwas heiser hervor und drückte ihm leidenschaftlich die vollen, feuchten, glühenden Lippen auf den Mund: ein Kuss, der ewig währte und ihm den letzten Tropfen Leben aus dem Leib saugte.
Frau Stift war plötzlich splitternackt, der Morgenrock lag vor dem Sofa. So stand sie vor ihm, groß und bloß, ihr weißes Fleisch schimmerte und blendete die Augen. Rost sank auf die Knie und barg den Kopf in dem weißen Feuer. In diesem Moment wäre er fähig gewesen, wie ein abgestochener Stier zu brüllen, einen Menschen zu ermorden oder gar Hand an sich zu legen. Er glitt an dem erschauernden Körper hinauf, übersäte den gewölbten Bauch mit Küssen, hingmit den
Weitere Kostenlose Bücher