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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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sobald er sich an den Vorfall im Hafen erinnerte, verlor aber stetig an Intensität. Nicht dass er Reue oder Gewissensbisse empfunden hätte, aber er fühlte sich immer wie mit unsichtbaren Banden an den Tatort gefesselt, von dem ihm ewig derselbe Hauch entgegenwehte, als wäre sein Leben geschrumpft und degeneriert, wo er einem anderen das Leben raubte, als sei dessen Fehlen der wahre Grund für seine Einsamkeit.
    Eine Prostituierte hatte ihm damals in einem ärmlichen und dürftig möblierten Zimmer mit Fetzen ihres Hemdes die Wunden verbunden. Hatte ihn mit der Hingabe einer Krankenschwester umsorgt, und diese gute Pflege wie auch die quälenden Schmerzen hatten seine große Einsamkeit ein wenig gelindert. Danach hatte er noch zwei Monate im Krankenhaus verbracht, bis er ganz wiederhergestellt war. Fortan gab er sich nicht mehr mit Menschen dieser Sorte ab, wollte es nun mit einer anderen Gesellschaftsschicht versuchen und besaß die nötigen Mittel dafür.
    Er stieg in ein Unternehmen zur Erdölförderung ein und brachte durch verschiedene Manipulationen den Großteil der Aktien in seinen Besitz, und als diese nach einiger Zeit gestiegen waren, stieß er sie ab. Danach befiel ihn unerträglicher Ekel, und er machte sich aus dem Staub. Anderthalb Jahre reiste er in der Welt herum, beobachtete das menschliche Verhalten in mehreren Ländern, verwickelte sich auch in allerlei Abenteuer und kehrte schließlich nach New Yorkzurück, wo er sich aus den meisten seiner Geschäfte zurückzog. Er behielt nur ein paar sichere Aktien und deponierte Geldbeträge auf US-amerikanischen und europäischen Banken. Er war damals zweiunddreißig Jahre alt und nahm sich eine Frau.
    »Und wenn Sie Geld hätten, viel Geld?«
    »Dann würde ich es verschwenden.«
    »Es gibt Summen, die man nicht verschwenden kann, höchstens wegwerfen.«
    »Man kann es anderen geben, die es brauchen.«
    »Lohnt sich das?«
    »Sie mögen diese Leute nicht.«
    »Ich kenne sie. Sie sind schwach oder schlecht oder beides.«
    »Vielleicht einfach vom Unglück verfolgt.«
    »Auch das. Aber ich bin kein barmherziger Typ. Es gibt nur einen Weg: Man muss sie beherrschen – sonst beherrschen sie dich. Und das Ende ist bei allen gleich. Jeder stirbt allein. In völliger Einsamkeit.«
    Rost lächelte vor sich hin. »Sie mögen sie nicht, haben aber doch Verbindung zu ihnen.«
    »Ohne sie würde ich mich vermutlich sehr langweilen.«
    Dean lehnte sich in dem blaugeblümten Plüschpolster zurück und zog ausgiebig an seiner duftenden Zigarre, die schon zur Hälfte zur Aschensäule geworden war, ließ den Blick mal durch den Saal, mal durchs Fenster auf die regennasse Straße schweifen und richtete die Augen hin und wieder auf Rost. Er erkannte bei ihm eine gewisse Ähnlichkeit mit sich selbst, eine Art Seelenverwandtschaft trotz des eindeutigen Unterschieds im Wesen, und fand es interessant, seine jungen Jahre in etwas anderer Form und unter anderen Bedingungen erneut zu durchleben. Er wollte die Entwicklung dieses jungen Mannes verfolgen.
    Schon als er ihn vor einigen Tagen ohne feste Absicht, nur aus einem inneren Antrieb heraus, vor dem Schaufenster angesprochen hatte, hatte er gleich nach den ersten Worten eine gewisse Sympathie für ihn empfunden, die in den wenigen Tagen seither stetig gewachsen war und jetzt noch zunahm. Der junge Mann da vor ihm besaß zweifellos eine starke Persönlichkeit. Man sah ihm an, dass er seine Meinung kaum der anderer Leute unterordnen oder seinen Willen wegen eines anderen Willens aufgeben würde.
    »Möchten Sie mit mir zu Abend essen?«
    »Dem steht nichts entgegen.«
    »Dann rufe ich zu Hause an, und danach gehen wir.«
    Er stand auf und ging telefonieren, und wenige Minuten später verließen sie das Kaffeehaus.
    Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Nur das Pflaster glänzte noch feucht, und kleine Pfützen standen in den Mulden. Es war zwanzig Minuten vor sieben. Es dämmerte früh wegen der schweren, dunkelgrauen Wolken, die sich dicht über den Dächern türmten. Die Laternenanzünder waren schon in ihren schmutzigen Staubmänteln unterwegs und zündeten mit langen Bambusstangen, an deren Spitze eine rußende Flamme flackerte, im Zickzacklauf die Gaslaternen an beiden Straßenseiten an. Die beiden Männer gingen gemessenen Schritts die Kärtner Straße entlang, bogen auf den Ring, passierten das Opernhaus und betraten ein berühmtes, elegantes Restaurant, in dessen geräumigem Saal schon ein paar frühe Gäste saßen,

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