Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
anbetrifft?«
»Das ist kein Hindernis. Ich meine, es dürfte nicht schwer sein, sie bei Bedarf zu erlangen, sei es durch Arbeit, sei es durch …«
»Was?«
»Kommt auf die Persönlichkeit an. Ich bin meiner selbst sicher.«
»Ihnen sind alle Wege gleich?«
»Es gibt Menschen, für die die regulären Gesetze nichtgelten. Nicht für sie wurden sie erlassen. Das haben Sie selbst gesagt.«
»Das ist leicht gesagt. Danach handeln ist eine andere Sache!«
»Ich spüre die Kraft in mir.«
Dean warf ihm einen kurzen prüfenden Blick zu und ließ seine Augen dann in die Ferne schweifen, über zwanzig Jahre zurück zu seiner eigenen Jugendzeit. Die Tellerwäscherei war keine leichte Arbeit gewesen, erst recht nicht für einen, dem das Blut in den Adern brodelte, der darauf brannte, die Welt zu erobern. Danach hatten seine langen Fahrten an die Grenzen zu Kanada und Mexiko angefangen, seine nächtlichen Treffen mit allerlei zweifelhaften Typen, die keiner Gesellschaft oder Nation angehörten und deren Herkunftsmerkmale sich längst verwischt hatten. Das war ein Prüfstand für den Menschen gewesen, dort konnte man seine Kraft und Courage messen. Man brauchte auch etwas Hirn im Kopf für all das Lavieren zwischen Polizeiagenten zur einen und Banditen mit ihrer Ladung Opium oder Haschisch zur anderen Seite.
In diesem Moment meinte er erneut einen Schmerz zu verspüren, ein schwaches Ziehen in den Narben, die ihm aus jener Zeit geblieben waren. Ihm fiel jene Nacht ein, in der er mit dem irischen Seemann gerungen hatte, als beide sich in stummem, verbissenem Zorn auf dem Kai im Hafen wälzten, mal der eine, mal der andere oben, und er mehrmals die kühlen Stiche einer Messerspitze spürte, Stiche, die nur durch die Kälte des Metalls ins Bewusstsein drangen, nicht durch den Schmerz, der in jenem Augenblick kaum spürbar gewesen war. Und später, als der andere Leib sich unter dem Zangengriff seiner Hände ein letztes Mal aufbäumte und dann starr und reglos liegenblieb, hatte er jenen fremden Körper losgelassen, dessen jähe Veränderung doppelten Ekel bei ihm erregte, war todmüde gewesen. Noch heutespürte er den Schmerz der Stiche, fühlte sein Blut aus den Wunden rinnen – damals wäre es ja ratsam gewesen, den Leichnam liegenzulassen und sein eigenes Leben zu retten, baldmöglichst Unterschlupf und Wundversorgung zu finden. Welcher Teufel hatte ihn dann also geritten, sich in Gefahr zu begeben, nämlich ein Streichholz anzureiben und in seinem Schein das stumme Gesicht des Toten zu betrachten – sein rechtes Auge stand einen Spalt offen, ließ das Weiße hervorschimmern, und die Zunge hing ihm aus dem Mund – und ihn dann, trotz heftigen Ekels, mit letzter Kraft an den Rand des Kais zu schleifen und in das ölig schwarze Wasser zu stoßen?
Von dem ganzen Vorfall war ihm noch lange das Gurgeln des Wassers, das sich über dem Toten schloss, in Erinnerung geblieben. Er war kurz am Rand des Kais verharrt, zwischen den schlafenden Schiffen vor Anker, hatte schlaff und schmerzlich die Ozeandampfer betrachtet, auf denen sich nichts regte, die riesigen, stummen, schwarzen Grabsteinen auf einem weiträumigen Friedhof glichen, hatte dem leisen Glucksen der Wellen gelauscht und sich auf einmal verzweifelt einsam gefühlt, dem Selbstmord nahe. Dieses jähe Gefühl hatte ihn geradewegs von dort unten angeweht, von der Stelle, an der das Wasser die Leiche des Matrosen verschlungen hatte, hatte ihn seine Schmerzen und die Gefahr, die sein Ausharren heraufbeschwor, vergessen lassen und eine Spur Reue ausgelöst. Er hatte nicht die Kraft aufgebracht, sich rechtzeitig davonzumachen, sich von dem Leichnam loszureißen, der vermutlich noch in seiner Nähe trieb, knapp unter Wasser, aber hier zu seinen Füßen, wenn auch unsichtbar. Wenn er sich jetzt entfernte, würde er diese Einsamkeit wie eine nie verheilende Wunde mitnehmen – so schien es.
Ein starkes, verborgenes Band fesselte ihn an diesen Ort und an den verschwundenen Leichnam, machte ihn bewegungsunfähig.Vorgebeugt starrte er in das schwarze Wasser, ohne etwas zu sehen, bis eine Schiffssirene aufheulte und ihm einen Schauder über den Rücken jagte. Plötzlich fröstelte er in der warmen Sommernacht und ging hastig, fast im Laufschritt, davon, trotz seiner Erschöpfung von dem Ringkampf und dem Blutverlust, und sein Mut kühlte sich erst ab, als er den Hafenbereich verließ und in das Straßennetz eintauchte.
Dieses Gefühl überfiel ihn später noch einige Male,
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