Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Schlafengehen. Vor seinen Augen tauchte das so wohlvertraute Schlafzimmer mit den schweren alten Holzbetten auf. Darin seine Mutter, deren Gedanken zu dieser Stunde zweifellos ihm, ihrem geliebten Sohn, galten. Abstrakte Gedanken mit wehem Herzen auf unsicherem Grund, denn sie kannte ja weder seinen Aufenthaltsort noch seine Lebensumstände, an denen sie ihre Grübeleien hätte festmachen können. Ihn überkam ein warmes Gefühl für seine Mutter, deren Tun ihm plastisch vor Augen stand –wie sie ihre Kleider ablegte, ihr Haar öffnete, kämmte und zu einem goldenen Zopf flocht, dann wie gewohnt ein Buch aufschlug, um vor dem Einschlafen noch ein wenig im Liegen zu lesen, wobei ihr die Gestalt ihres Sohnes aus jeder Zeile entgegenblickte, die Gestalt des Sohns, der sie verlassen hatte, bis sie das Geschriebene nicht mehr erkannte. Das ist das Schicksal der Mütter – die Welt raubt ihnen die Söhne.
»Spielen Sie Karten?«, riss Dean ihn aus seinen Grübeleien.
»Gelegentlich.«
»Da sind wir schon.«
4
Es war eine Stunde nach Mitternacht, als sie den Klub verließen. Ein kühler Sternenhimmel hing über der Großstadt. Millionen von Menschen lagen nun in Schlaf versunken, und die Stadt mit ihren schweren, blinden Gebäuden schien verlassen und herrenlos zu sein. Nächtliche Frische umwehte die beiden, als sie aus dem Tor traten, und absorbierte etwas vom Rausch des Spiels. Rost spürte eine leise Traurigkeit aufkommen, eine Art von Trauer über etwas Verlorenes. Er hatte an diesem Abend eine Summe gewonnen, die er noch nie im Leben besessen hatte, empfand im Innern jedoch eine seltsame Leere, vermischt mit leichtem Bedauern, als sei er gerade durch seinen plötzlichen Reichtum verarmt. Peter Dean erkannte von weitem seine Droschke in der Reihe der Prachtkutschen am Bordstein mit ihren eleganten Geschirren und den Kutschern, die zusammengekauert auf ihren hohen Böcken dösten.
Franz richtete sich ehrfürchtig auf, als sie näher kamen. Rost schlug einen kleinen Spaziergang vor, und sie gingen verhaltenen Schritts die leicht abfallende Straße zur InnerenStadt hinunter, während die Droschke ihnen in einigem Abstand folgte.
»Sie haben eine anständige Summe gewonnen, scheint mir«, brach Dean das Schweigen. »Acht- oder neuntausend. Aber Sie wirken unzufrieden.«
»Ich weiß nicht. Die Welt kommt mir irgendwie etwas entleert vor.«
Die Ringstraße lag nackt und verlassen vor ihnen, breiter als bei Tag, beiderseits gesäumt von Reihen ausladender, regloser Bäume. Nachtwächter klimperten mit mächtigen Schlüsselbünden, vereinzelte Passanten kamen vorüber, Prostituierte schwenkten auffordernd ihre Handtaschen, schritten, allein oder zu zweit, ein begrenztes Stück Bürgersteig auf und ab und riefen jedem Mann dasselbe geschäftstüchtige »Komm Schatzerl!« zu. Obdachlose lagerten hier und da auf einer lauschigen Bank, erleuchtete Würstchenbuden standen an den Straßenecken, stattliche Polizisten wie angewurzelt mitten auf dem Bürgersteig, gelegentlich fuhr eine Droschke vorbei, und das Hufgetrappel hallte klar und volltönend von den toten Häusern wider.
»Vielleicht gehen wir irgendwo was trinken?«
Dean hatte gegen diesen Vorschlag nichts einzuwenden. Sie bogen in die Kärtner Straße und von dort in eine Seitengasse. Über einem Eingang blinkten abwechselnd rote und blaue Leuchtbuchstaben, die zu einem seinerzeit sehr berühmten nächtlichen Kabarett einluden. Weiblicher Parfümduft vermischt mit Tabakgeruch, aufdringliches Licht, Damen in herrlichen Abendroben und funkelndem Schmuck, Herren im Smoking oder in Galauniform, mit streng gezwirbelten Schnurrbärten und mit Monokeln. Gefühlvolle Klänge umschwirrten einen wie ein unsichtbarer Schmetterlingsschwarm, wann immer die Tür aufging, und zwei rotlivrierte Türsteher machten stumme, feierliche und doch etwas mechanisch wirkende Verbeugungen.
Ein paar breite, mit weichem, weinrotem Teppich ausgelegte Treppenstufen führten hinunter in eine geräumige, halbrunde, bläulich beleuchtete Vorhalle. Zu beiden Seiten standen Marmorstatuen und mächtige Blumenkübel mit Zwergpalmen, verdoppelt in den Spiegeln, die beide Wände bis zum vergoldeten Karnies bedeckten. Drei Türen führten weiter in den großen Saal, der durch übermannshohe Wandschirme in Nischen unterteilt und rings von einer Galerie umgeben war. Es herrschte Hochbetrieb. Funkelnde Glatzen und komische Damenhüte, die exotischen Vögeln glichen, waren über den ganzen Saal
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