Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Welt hinausgezogen.«
»Wohin?«
»An alle Enden des Erdballs. Erst nach Amerika, mit dem Reifezeugnis, der Schiffsfahrkarte und zwanzig Gulden.«
»Wenn Ihr Vater nicht gewesen wäre, wären Sie nicht losgezogen?«
»Doch, auch.«
»Und dann?«
»Dann habe ich mir ein Ziel gesetzt: Die erste Million innerhalb von fünf Jahren, und bin Tellerwäscher in einem großen Hotel geworden. Am Ende des vierten Jahrs war die erste Million komplett.«
»Aber nicht nur vom Tellerwaschen.«
»Nein.« Und einen Augenblick später: »Die erste Million ist die schwerste. Die anderen trotten hinterher wie Schafe dem Leithammel. In Ihrem Alter habe ich mir gesagt: Die Menschen lassen sich sicher in jede Richtung lenken, man muss nur die Methode kennen.«
»Sie waren auf Kapital aus.«
»Auf Freiheit, vielleicht auf Macht. Geld ist schließlich eine wichtige Grundlage. Zielstrebigkeit bedeutet ja, das Jetzt dem Später hintanzusetzen.«
»Ich persönlich möchte keine einzige Minute zugunsten einer unsicheren Zukunft aufgeben.«
»Gewiss, manchmal reist der Mensch um des Reisens willen und nicht, um an einen Zielort zu gelangen, aber auch dafür muss man eine Fahrkarte lösen.«
»Man kann auch zu Fuß gehen.«
»Das ist Geschmackssache. Sie kommen nicht weit und ermüden auch noch.«
Dean trank einen Schluck Wasser aus einem der Gläserauf dem Nickeltablett. »Dem Menschen ist nur eine begrenzte Zeit gegeben, und die verbringt er ja zumeist geistesabwesend, denn andernfalls findet er sich schließlich in einem völligen Leerraum wieder, und am Horizont – der Tod, der so deprimierend sicher ist.«
Draußen regnete es wieder. Kurz über dem Asphalt schienen die Tropfen umgekehrt zu spritzen, von unten nach oben. Die Pferde der vorbeifahrenden Droschken glänzten feucht. Dean sprach weiter: »Der Mensch ist immer allein mit seiner Not, seiner Langeweile, seiner Freude, und daher führt die rasende Flucht vor sich selbst und seiner Einsamkeit, wohin auch immer, gelegentlich sogar in den Tod. Das wichtigste Element des Menschen ist die Angst, und sein ganzes Streben zielt darauf, sich davon abzulenken, sich zu verstecken.«
Das Kaffeehaus war voll besetzt. Die Kellner in ihren weißen Jacken trugen geschäftig Tabletts mit Wassergläsern, Spirituosen, Kuchen, Zeitungen. Die Musik klang leicht und sehnsüchtig aus dem um fünf Stufen erhöhten Nebensaal herüber, verfloss nicht mit der trüben Stimmung, die der Regen draußen verbreitete.
Rost sagte: »Sie haben Erfahrung. Ist es, Ihrer Ansicht nach, gut für den Menschen, irgendein Ziel anzustreben?« Er selbst war der Überzeugung, dass kein Mensch nach dem Unergründlichen forschen sollte – das sichtbare Leben, so wie es war, war interessant genug. Hätte jemand ihn gefragt, was er mit aller Kraft anstrebe, hätte er mit seinen achtzehn Jahren gewiss keine Antwort gewusst. Lebenshunger und eine große Portion Neugier – nur das hatte er gewiss in sich stecken.
»Der Mensch strebt eigentlich immer ein Ziel an, bewusst oder unbewusst«, sagte Dean, »je nach seiner Kraft und seiner Seelenstärke. Die Überwindung von Hindernissen spendet Genugtuung, das ist ein spontaner, vorübergehenderZustand, mehr nicht. Auch die Erfüllung der körperlichen Bedürfnisse verleiht gewisse Befriedigung. Sie ist primitiver, animalisch, und auch die Liebe gehört in diese Kategorie.« Dann sagte er: »Ich glaube, die meisten Tatmenschen handeln nur um des Handelns willen, um der Leere und Langeweile des Müßiggangs zu entrinnen, und der Zweck ist nebensächlich. Dann gibt es noch einen Menschenschlag von eher passiver Natur. Diese Leute beobachten gern, überlassen sich dem Zufall. Und Sie persönlich, wie gedenken Sie Ihr Leben zu fristen?«
Rost war zwar von glühendem Temperament, das sich mit dem Ersehnten stets völlig paaren konnte, bewahrte sich aber immer ein klares Eckchen im Hirn, gleich einer kleinen Luke in einem dunklen Zimmer, und von dort fiel etwas Licht auf sein jeweiliges Tun und Treiben. »Ich mache keine Zukunftspläne. Habe auch kein festes Ziel, das ich anstreben würde.«
»Und wozu sind Sie dann in die Welt gezogen?«
»Aus Neugier. Ich möchte das Leben kennenlernen, die Menschen, mich selbst.«
»Das ist ein Ziel wie jedes andere.«
»Ich möchte auch leben. In alle verborgenen Winkel eindringen. Ich meine, zu den aktiven Menschen zu gehören. Das ist keine Wertung nach Gut und Böse, nur eine Kategorisierung.«
»Und was die materiellen Mittel
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