Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
Vom Netzwerk:
Die Sonne kletterte goldgelb an den Häusern empor, die über Wipfel und Eisengitter lugten. In der Nähe schlug ein kleines Mädchen begeistert einen großen Reifen, eine riesige blaue Schleife im strohblonden Haar. Ein junges Kindermädchen unterbrach ihre Lektüre und mahnte: »Susi, nicht zu weit weg!« Die Kapelle spielte weiter, Erna blieb stumm. Mit dieser Erna, in der Fülle ihrer sechzehn hilflosen Jahre, mit der Eisenbahn Stunde um Stunde enteilen und in ein fremdes Dorf gelangen, das sich schon unter einem lauen Frühlingsabend zurückzieht, beim gemächlichen Muhen einer Kuh, und dort mit ihr ein niedriges, geräumiges Zimmer im einzigen Gasthof beziehen, mit einfachen, schweren, alten Möbeln, die den Geruch von vor zwei Generationen speichern, und das Bettzeug duftet frisch nach Wäsche und den Händen einer starken, derben Bäuerin. Und sich dann aufs Fensterbrett stützen und lange verlegen auf das stumme, menschenleere Dorf blicken, in dem nur ein mondsüchtiger Hund langsam umhertappt, und ihre sechzehn Jahre ganz nah bei dir glühen und flatternspüren, sie spüren, bis dir der Atem versagt und die Knie zittern, und danach wieder mit der Eisenbahn sausen, weiter und immer weiter fahren, auf der Suche nach dem Glück, das du in dir hast … Da wirst du ja schon beinah rührselig, spöttelte Rost über sich selbst.
    Erna schreckte plötzlich von ihrem Platz hoch, als dränge die Zeit sehr. Rost erhob sich ebenfalls. »Wenn Sie gestatten, werde ich Sie nach Hause begleiten. Es wäre mir ein großes Vergnügen.« Sie gab keine Antwort, und Rost schritt neben ihr her. Ihre Aufregung schien sich gelegt zu haben, jetzt wirkte sie traurig, vielleicht sogar schüchtern.
    Vor einem prächtigen Kaffeehaus auf dem Ring drängte er sie, auf eine halbe Stunde mit ihm hineinzugehen. Sie willigte wortlos ein. Sie setzten sich auf die Terrasse. In der klaren Luft tanzten grünliche und goldene Flimmer. Der Himmel war rötlich gefleckt, und daran hingen lockere Wattewölkchen, wie mit feinem Pinsel hingetupft. Die Sonne war schon über die Dächer emporgestiegen, überfüllte Trams sausten quietschend dahin. Leichte Kutschen rollten vorüber, Passanten eilten irgendwohin, andere gingen ruhig und gemächlich. Das Herz begann sich nach etwas Unbestimmtem zu sehnen.
    »Ist Ihre Mutter jetzt zu Hause?«
    »Sie ist ausgegangen.« Und kurz danach: »Was geht Sie das an?«
    »Ich hab nur so gefragt.«
    In ihrer Unschuld sagte sie: »Vater kommt in drei Tagen zurück. Hat er geschrieben.«
    In diesem Augenblick entdeckte Rost in der Menge Gertrud Stift. Er stand auf und rief sie.
    »Du bist hier?«, wandte sie sich leicht unwillig an Erna.
    »Ich bin schuld«, antwortete Rost, »ich habe sie im Volksgarten getroffen und mit ins Kaffeehaus geschleppt. Ichnehme gern jede Strafe an, die Sie mir auferlegen«, endete er lachend.
    »Es ist kein großes Vergehen«, sagte Gertrud, aber an ihrer Miene war abzulesen, dass es ihr gegen den Strich ging. Sie redete nur kurz und zurückhaltend und wollte nicht im Kaffeehaus bleiben. Sie müssten pünktlich zum Abendbrot nach Hause.
    Die Stimmung war angespannt. Auch Erna schien wieder gegen ihn zu sein, er spürte den versteckten Stachel in den paar Worten, die sie hinwarf. Er zahlte und gab den beiden das Geleit.
    Es war nicht weit bis nach Hause. Rost redete vom Wetter und verstummte dann. Daheim verschwand er sofort in seinem Zimmer. Es war gegen halb sieben. Er zog einen Hausmantel über und setzte sich ans offene Fenster. Eine Weile blätterte er lustlos in einem neuen Roman, der schnell Berühmtheit erlangt hatte. Er hielt das für unberechtigt. Der Stil war schwülstig, unnatürlich, aufdringlich, rieb dem Leser übertrieben selbstgefällig seine Weisheiten unter die Nase, als wolle er sagen: Da, seht ihr, so bin ich! Ich weiß das und das und auch das noch! Hier habt ihr es mit mir zu tun, vergesst das nicht! Die Realität in diesem Roman war verfälscht, verzerrt, hatte keinen direkten, natürlichen Bezug zu den Dingen. Dieser Schriftsteller hatte nur Verstand, kein glühendes Temperament, war kein Künstler.
    Rost legte das Buch geringschätzig aus der Hand und stand auf, um aus dem Fenster zu schauen. Vereinzelte Bürger hasteten aus dem Stadtkern zu ihren Häusern und verschwanden in den Eingängen. Der Tag ging zu Ende, war schon ganz blass vor Schwäche. Aus einem offenen Fenster lugte das Gesicht eines jungen Mädchens, das nach draußen lächelte. Vielleicht galt das

Weitere Kostenlose Bücher