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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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an die Menschen verloren.«
    »Er hat sie also geliebt?«
    »Nicht geliebt. Oder doch. Vielleicht hat er sie geliebt, ohne es zu wissen.«
    Rost dachte an die jungen Männer in seiner Heimatstadt, die bei Geheimversammlungen den Schneider- und den Schreinerlehrlingen und anderen den Aufstand predigten und riefen: »Genossen, ausgebeutetes Arbeitervolk! Erhebt euch wie ein Mann! Werft die Ketten ab!«, und so weiter und so fort, bis die Obrigkeit sie erwischte, nach Sibirien schickte und sie Märtyrer der Revolution wurden. Die Eltern handelten mit Holz, mit Getreide, spekulierten und makelten, eröffneten alle möglichen Ladengeschäfte nebeneinander, in ständiger Furcht vor Pogromen. An Sonn- und Feiertagen hetzten die Priester in den Kirchen zu Pogromen auf, undgrauenhafte Gerüchte liefen von Mund zu Mund: »Sie treffen Vorbereitungen …« Die Jugendlichen klapperten die Dörfer ab, um die Bauern gegen die ausbeuterischen Gutsbesitzer und gegen den Kaiser aufzuwiegeln, und das von den Söhnen angefachte Feuer raffte letzten Endes die eigenen Eltern hinweg.
    Die Gäste verliefen sich. Nur vereinzelt saßen sie hier und da noch an den Tischen und beendeten ihr Abendessen. Malwine kam hinter dem Tresen hervor und stellte sich neben Max Karp. »Herr Kerp, vielleicht haben Sie einen Augenblick Zeit? Die Herren mögen mir verzeihen!« Sie sagte tatsächlich »Kerp«, wobei sie ihre schmalen Lippen auf eine Weise schürzte, die kokett sein sollte. Der Angesprochene erhob sich und entschwand mit ihr an die Theke. Bald darauf sah man ihren Gesten an, dass ein erregter Streit zwischen ihnen ausgebrochen war. Gehässig überhäufte sie ihn mit Rügen über sein langes Wegbleiben, weil er die fröhliche Männerrunde ihrer Gesellschaft vorgezogen hatte. Und schon bekam man einen schalen und öden Vorgeschmack auf ihr künftiges Eheleben, zehn Jahre später, wenn sie sich schon zum Überdruss kennen würden, bis zu jeder kleinsten Grimasse, jedem Mienenspiel, jedem Lippenschlag und jeder Gemütsregung, und sie nichts mehr verbände als Abscheu und ewiger, untilgbarer Hass, der sie mit unlösbaren Strängen aneinanderketten würde. Er wäre dann ein kleiner Angestellter oder Lehrer oder ein mittelmäßiger Kaufmann mit Bauchansatz, Glatze und Plattfüßen, mit Filzpantoffeln unterm Bett, und in einer Ecke der Tischschublade würden die Hoffnungen seiner Jugendzeit in einem vergilbten, mottenzerfressenen Heft begraben liegen: seine unveröffentlichten Schriften, sein Vermächtnis zu Lebzeiten. Und sein Scheitern und seine Nichtigkeit würde er seiner Frau und seinen Sprösslingen in die Schuhe schieben, derentwegen ernicht das geworden ist, was er hätte werden sollen. Sich als Opfer des Familienlebens zu betrachten würde ihm sicher einiges an Trost und Genugtuung bieten, ja er würde sich vielleicht sogar behaglich einrichten in diesem Selbstmitleid und gern den Satz im Munde führen: »Ah, wenn die äußeren Umstände nicht gewesen wären, die Frau, die Kinder …«
    Draußen verlangsamte sich das Getriebe. Schon lugte die Stille einer einsamen und verlassenen Nacht hervor. Nur aus der nahen Kneipe dröhnten hin und wieder noch trunkene Laute. Und in den Pausen zwischen dem Grölen der Besoffenen drang ein unterdrücktes Tuscheln herüber, vermutlich von einem Liebespaar im Hauseingang neben dem Fenster.
    Rost rief den Kellner und zahlte. Verabschiedete sich von den anderen und trat mit Mischa ins Freie. Schweigend gingen sie nebeneinander bis ans Ende der kleinen Straße, die am Kanal endete.
    »Wenn du erlaubst, werde ich dich ein Stück begleiten.«
    »Du kannst mitkommen«, sagte Mischa, ohne im Gehen innezuhalten. Sie bogen in die Grünanlage am Kanalufer ein, auf deren Bänken einzelne Pärchen liebestrunken und eng umschlungen vor Blumenrabatten saßen, die angenehme Nachtkühle atmeten. Barhäuptig schritt Mischa mit seinen langen Beinen aus, so dass Rost nur mühsam mithalten konnte.
    »Hör mal, Mischka, wenn du irgendeine Summe, fünfzig oder hundert Kronen, brauchst, herzlich gern.«
    »Nicht nötig.«
    Ein Weilchen später hatte er es sich anders überlegt: »Gut. Fünfzig würden reichen.«
    Sie setzten sich auf eine freie Bank. Unter ihnen ratterte die Stadtbahn auf ihrem Schienenstrang am Kanal entlang. Einen Augenblick schwebte Kohlengeruch in der Luft. Sterne blinzelten feucht durch die Baumkronen.
    Lässig steckte Mischa die fünfzig Kronen ein, ohne einen Dank. Zündete sich eine Zigarette an. Benahm

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