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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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sich, als säße er allein da, und beachtete Rost lange nicht. Dann zischte er unvermittelt: »Das Ende liegt vor dir, ganz nah, verstehst du?! Ein sicheres, absolutes Ende, wie eine nahe Bahnstation, die man durchs Zugfenster sieht, ohne dass man ihr ausweichen könnte! Du gehst ihm geradewegs entgegen, wie auf Schienen. Und du weißt immer, dass es naht, im Wachen wie im Träumen, beim Tun und beim Ruhen, und du kannst diese Erkenntnis nicht leugnen. Alles wird so bleiben wie zuvor, nur du, du allein wirst fehlen … Und die Welt wird sich im Nu wieder schließen, wie das Wasser, in das man kein Loch stanzen kann, und man wird die Lücke nicht mal spüren. Nichts. Kein Mensch wird mit der Wimper zucken.«
    Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Da sind die schwarzen Pocken schon besser! Von Stadt zu Stadt fahren und die Brunnen vergiften! Damit sie mit dir vom Erdboden vertilgt werden! Nur so, das ist die einzige Genugtuung!«
    »Wie du sie hasst!«
    »Wie ich sie hasse, bis zum Wahnsinn! Als wäre ich der Großinquisitor!«
    »Ich weiß nicht, ob sie solchen Hasses würdig sind, ein bisschen Verachtung genügt.«
    »Weißt du’s denn nicht? Ein bisschen Verachtung? Alles ruhig und gelassen und ohne Gesetzesverstöße? Auf keinen Fall! Das ist was für blutleere Typen wie dich, aber ich weiß es. Der Puls – hundertzwanzig pro Minute, verstanden?! Das Blut – das ist der Schnittpunkt! Hier ist kein Platz für ein bisschen lauwarme Verachtung.«
    Er hustete stoßweise, hohl, wie aus einem leeren Fass. An der Häuserzeile gegenüber, auf der anderen Straßenseite, waren die meisten Fenster schon erloschen, sahen aus wie rechteckige, schwarze Löcher in den hellen Mauern. DieZimmer dahinter waren bis zur letzten Ecke von Schlaf erfüllt. Die Geräusche der Stadt verebbten mehr und mehr. Irgendwo erklang das kurze, ferne Tuten einer Tram. Die rote Kaserne in der Nähe stand in dichtes, düsteres Schweigen gehüllt. In der Tür des Schilderhäuschens hielt ein Soldat mit Gewehr Wache, eine dunkle, starre Silhouette. Seine Majestät, der alte Kaiser, schlief gewiss schon auf seinem weißen Bart.
    »Alle vergiften!«, wiederholte Mischa dumpf. Scharrte ein-, zweimal mit dem Fuß im Kies der Allee, den Blick ins Leere gerichtet. »Eine alte Mutter und ihre Tochter, eine vor den Augen der anderen vergewaltigt – ha, was sagst du dazu?! Und danach die Tochter mit gespreizten Beinen auf dem Boden hingestreckt, entstellt, in einer Blutlache, umgeben von den Federn zerrissener Kissen, und neben ihr sitzt die Mutter reglos und stumm. Sie schweigt schon sechs Jahre lang, diese Mutter, hat nichts mehr hinzuzufügen. Aber die Augen! Du kannst verrückt werden unter diesem Blick! Auch dafür, würdest du sagen, genügt ein bisschen Verachtung, ha?«
    »Gewiss nicht, aber ich hätte es für richtiger gehalten, damals, zur Tatzeit, etwas zu unternehmen. Gegen die Schuldigen selbst.«
    »Und woher willst du wissen, dass es nicht geschehen ist?! Es wurden ein paar Dörfer in der Umgebung angezündet. Ein paar Bandenführer kamen um. Aber deine Einstellung zur Welt ist danach gefestigt. Diese Bilder haben sich deiner Seele unauslöschlich eingeprägt.«
    Ein Polizist spazierte an ihnen vorbei, warf ihnen einen durchdringenden Blick zu. Es war still. Das Herz verkrampfte sich. Es war schade um den baumlangen Mann, der diese grauenhaften Szenen stets vor Augen sah und seinem baldigen Ende entgegenging. Dann kam eine Frau mitbreitkrempigem Hut und setzte sich zu ihnen auf die Bank. Ihre Gesichtszüge waren im Halbdunkel nicht zu erkennen.
    »Vielleicht gehen wir irgendwo was trinken?«
    In seiner Heimatstadt waren einige Frauen dieser Sorte auch den Jungs des Viertels bekannt gewesen, weil sie nachmittags zuweilen zu zweit oder dritt sorglos spazieren gingen, Erdnüsse knackten oder Bonbons lutschten, wie Fremde flanierten, zögernd, als gehörten sie nicht in diese Stadt und in diesen Tag, zögernd oder im Gegenteil lauthals redeten, mit übertriebenem, frivolem Kichern. Ihre Kleidung war zwar nicht ungebührlich grell, stach aber immer durch etwas Auffallendes ins Auge, etwa durch bunte Schleifen oder schimmernde Tücher, die von einem öden, leeren Leben zeugten, einem Leben frei von Bindungen und Pflichten.
    »Ich geh nach Hause«, sagte Mischa.
    »Und mich wollen Sie hier allein lassen?«, fragte die Frau mit leicht rauchiger Stimme.
    »Es wird Ihnen nichts anderes übrigbleiben, als ebenfalls nach Hause zu gehen.«
    »Und wer sagt

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