Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Gesichtszüge zu zeichnen. Viertausend Hefte mit den Buchstaben Deines Namens zu füllen. Vier oder sieben Buchstaben. Und stets jeden Menschen freundlich anzulächeln aus Liebe zu Dir. Und für jeden Menschen schön zu sein aus Liebe zu Dir. Aber ich kenne Deine Gesichtszüge nicht. Ich weiß Deinen Namen nicht. Und vielleicht liebe ich Dich nicht. Ich könnte weinen, weil ich Dich liebe und weil ich Dich vielleicht nicht liebe. Wenn ich Dich richtig liebte, würde ich sogar meinen Geschichtslehrer lieben, der mich mit dem einen Auge ansieht, während das zweite in eine andere Richtung blickt, und der böse grinst, wobei er nur den halben Mund verzieht. Deinetwegen könnte ich sogar die Hausaufgaben richtig erledigen oder auch gar nicht. Aber ich sehe Dich nicht, und wenn ich Dich sähe, wüsste ich gar nicht, dass Du es bist. Vielleicht hätte ich kein Zeichen in der Hand, dass Du es bist, und ich würde mich sehr schämen und wäre böse und verschämt, Gott behüte. Wenn Du mich verspotten würdest, wäre ich traurig. Würde Dich hassen und Tränen vergießen. Wenn ich Dich heute dort antreffe, werde ich wissen, dass Du an mich denkst. In der ganzen Stadt gibt-es-keinen-Mann-außer-Dir – keinen Mann. Erna.«
Sie zerriss das Blatt in kleine Fetzen und schob sie auf dem Tisch zu einem Häufchen vor sich zusammen. Blieb reglos sitzen, ein selbstvergessenes Lächeln auf den angespannten Zügen. Dann erhob sie sich und las die Papierfetzen auf. Ging in die Küche, um sie in den Abfall zu werfen.
Auf dem Flur traf sie ihre Mutter angezogen und ausgehbereit.
»Uff !«, machte Friedel, als sie sich in den Sessel fallen ließ. »Heiß ist es heute!« Erna presste die Brieffetzen in der Faust zusammen, in dem vergeblichen Bemühen, sie zu einer Kugel zu formen. Sie hatte Friedel gar nicht hereinkommen gehört. Die sagte: »Ich hab deine Mutter auf der Treppe getroffen.«
»So, ist sie ausgegangen?!« Erna warf ihrer Freundin einen Blick zu. Sie war erhitzt, und ihre Brust wogte vom schweren Atmen. Friedel stand unvermittelt auf und küsste Erna auf den Mund. »Du bist schön, meine Liebe, weißt du das?« Erna dankte ihr im stillen Herzen. Friedel blieb bei ihr stehen und betrachtete sie voll Bewunderung.
»Triffst du Willi heute nicht?«
»Doch. Er kommt zum Abendessen, mit seiner Schwester Susi und mit Karl Greiner, dem Studenten an der Kunstakademie. Vielleicht kommst du auch?«
»Das geht nicht. Ich hätte es Mutter vorher mitteilen müssen. Sie wird sicher nicht vor dem Abendessen zurück sein.« Erna stand auf und rief durch den offenen Türspalt Mizi zu, sie solle Kaffee machen. Dann blieb sie stehen, um ihre Frisur zu richten und sich anzuziehen. Friedel saß wieder im Sessel versunken, die Beine übereinandergeschlagen, und verfolgte gleichmütig das Tun ihrer Freundin. »Er interessiert sich für dich, der Karl Greiner.«
»Dieser hässliche Affe?«
»Übertreib nicht, Erna, er ist gar nicht hässlich. Ein netter Bursche. Und weißt du, man sagt ihm großes Talent nach. Er wird auch ein Porträt von Mutter malen.«
Die beiden jungen Mädchen gingen ins Esszimmer, wo Mizi ihnen heißen Kaffee, Brötchen, Butter und Marmelade aufgetischt hatte. Friedel kaute so gierig, als hätte sie seiteiner Woche nichts mehr zu sich genommen. »Er hat von dir gesagt, du seist ein sehr schönes Mädchen«, nahm Friedel mit vollem Mund den Gesprächsfaden wieder auf. Dann sagte sie: »Vielleicht kommst du doch zum Abendessen? Weißt du, du könntest auch bei uns übernachten, morgen ist ja ein schulfreier Tag.«
»Ich weiß nicht. Wenn Mutter es erlaubt – dann ginge es. Sehen wir mal später.«
Sie gingen weg. Erna steuerte geradewegs den Volksgarten an, über frühlingshaft heitere Straßen, die sauberer und schöner als sonst zu sein schienen. Sie hörte gar nicht auf Friedels unaufhörliches Schwatzen. Ständig durchpulste sie der Gedanke: Wenn er dort ist, ist es ein Zeichen – und er war da.
Das heißt, anfangs war er nicht da. In der Allee, in der er gestern gesessen hatte, musterte sie klopfenden Herzens alle Spaziergänger und alle, die auf den Lehnstühlen saßen, und er war nicht darunter. Die Enttäuschung schlug ihr so jäh und mächtig aufs Herz, dass ihr die Knie zu versagen drohten. Fast stockte ihr der Atem. Sie blieb einen Moment stehen, um Luft zu schöpfen. Der belebte Garten wirkte mit einem Schlag leer und verlassen. Ohne eine Menschenseele. Am Ende der Allee machte sie kehrt, in der leisen
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