Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Geringschätzung entgegen. Und doch hing Friedel an ihr und suchte ihre Nähe, und als Gretel Müllner abgereist war, hatte sie die Gelegenheit genutzt, ihr noch näher zu kommen. Erna hatte nichts dagegen. Friedel war ihre Banknachbarin im Gymnasium. Ihre Schultasche steckte immer voller Schokolade und Süßigkeiten, und ihr Mund kaute ständig. Schon jetzt glich sie ihrer plumpen fünfzigjährigen Mutter, Frau Charlotte Kobler, bis auf deren Krähenfüßeum die Kalbsaugen, die sie vergebens unter einer dicken Puderschicht zu verbergen suchte.
Bei Verlassen des Schulgebäudes lud Erna sie für nach dem Mittagessen zu sich ein. Friedel Kobler wohnte nicht weit. Die beiden jungen Mädchen gingen denselben Weg bis zum Karlsplatz. An schönen Tagen blieben sie eine Viertelstunde in der kleinen Grünanlage, in der um diese Mittagszeit keine Kinder waren. Nur Arbeiter verzehrten hier und da auf den Bänken das Mittagessen, das ihre Frauen ihnen in Beuteln brachten. Meist waren es Fliesenleger oder Kanalisationsarbeiter, die in der Gegend zu tun hatten. Heute wollte Erna die sonnenüberflutete Anlage nicht aufsuchen, verabschiedete sich von ihrer Freundin und eilte nach Hause. Beim Essen redete sie wenig. Ihr Platz war gegenüber von ihrer Mutter, und hin und wieder warf sie ihr einen verstohlenen Blick zu. Stille Zufriedenheit lag auf dem Gesicht der Mutter. Ihre vollen Lippen waren saftig, reif, gesättigt. In dem geräumigen Esszimmer roch es nach Braten und Blattsalat. Leichte Schläfrigkeit hing im Raum. Auf dem blanken Boden und auf einer Ecke des weichen Teppichs zeichnete sich ein schräggezogenes Sonnenfenster ab.
»Der Salat ist frisch, nimm dir noch ein wenig.«
»Ich habe genug«, gab Erna zurück.
Dann sagte Gertrud: »Morgen gehen wir dir einen neuen Hut kaufen.«
Mizi trug die Mehlspeise auf, Nudeln mit Sahne und Rosinen.
»Ich habe Friedel Kobler eingeladen. Wir gehen ein bisschen spazieren.«
»Wohin?«
»Ich weiß nicht. In den Park.«
»Zieh lieber das blaue Kleid an, dies ist nicht mehr sauber genug.«
Gleich nach dem Essen ging Erna auf ihr Zimmer. Sie versuchte, die Hausaufgaben zu machen, ein Buch zu lesen, konnte sich aber nicht konzentrieren. Der Text blieb fremd, ohne Bezug zu ihr, unbegreiflich. So stand sie denn auf, um sich zu waschen und zu frisieren. In einem hellgrünen Unterkleid, mit bloßen Armen, kämmte sie ihr Haar vor dem Spiegel, ohne hineinzuschauen, geistesabwesend, mit langsamen, lässigen Bewegungen. Dann plötzlich machte sie schneller, wie von einer inneren Schwungkraft angetrieben. Fasste das Haar rasch zu einem losen Knoten zusammen, steckte ihn mit Klemmen fest und setzte sich an den Tisch. Zog einen leeren Bogen Papier aus der Schultasche und begann sorgfältig mit großen, runden Buchstaben zu schreiben: »Ich kenne Dich nicht. Ich will Dich nicht kennenlernen. Du bist mit Gewalt in mein Zimmer geplatzt und sitzt nun hier, am Fußende des Bettes, und lächelst. Warum lächelst Du die ganze Zeit unverfroren? Ich kann Deinen Anblick nicht ausstehen. Ich liebe Dich nicht. Werde Dich niemals lieben. Ich werde Dir dieses dreiste Lächeln aus der Visage polieren. Werde Dich umbringen. Dich kalt und hart und hässlich machen. Werde Dich töten. Küssen. Umbringen. Beißen. Werde Dich in die Tischschublade hier stecken und Dich bei Bedarf draus hervorholen, und Du wirst mein sein. Mein, mein, mein! Nicht Dein. Nicht ihrer. Dann werde ich Dich vielleicht einmal ein bisschen lieben und hinterher rauswerfen. Weil ich Dich gar nicht brauchen werde. Und vorerst geh hier weg. Bitte. Verlass das Zimmer. Du darfst mir ein kleines Küsschen geben, hierher. Und jetzt geh. Wenn Du meinst, dass ich schön bin, dann sag es mir, bevor Du gehst. Ich fange bei den Zehenspitzen an und ende oben auf dem Scheitel, vergiss es nicht. All das ist Erna Stift. Ich. Wenn Du nett wärst, würde ich Dich immer mitnehmen, aber das werde ich nicht tun. Du hast blondes Haar, und Du lachst bei Nacht. Nie werde ich Dich auch nur einenDeut lieben. Ich liebe Dich. Wenn ich wollte, würde ich kommen und meinen Kopf auf Deine Schulter legen und eine Woche so verweilen, würde nichts essen. Wir könnten so mit einem Schiff in See stechen und eine Welt erreichen, in der Du mein Geliebter wärst. Ich könnte Dir von morgens bis abends sagen, dass ich Dich ewig lieben werde. Sowohl bei Nacht, wenn ich schlafe, als auch bei Tag, wenn ich esse oder Klavier spiele. Ich wäre fähig, unablässig Deine
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