Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Hoffnung, ihn nicht gründlich genug gesucht zu haben. Es waren heute so viele Leute da! Und tatsächlich, als sie die Querallee erreichten, tauchte er aus der Menge auf. Erna wurde knallrot.
Lächelnd und forsch schritt er direkt auf die beiden zu. »Welch unverhofftes Glück«, sagte er und streckte Erna die Hand entgegen. Dann stellte er sich Friedel formvollendet vor. Erna schwieg einen Moment, brachte vor Aufregung keinen Ton heraus. Sie spürte, dass sie rot geworden war, und wurde wütend auf sich, was sie noch mehr erröten ließ. Gereizt schleuderte sie ihm entgegen: »Da sind Sie ja schonwieder! Sie haben anscheinend sonst nichts zu tun! Ein echter Müßiggänger.«
»Das Fräulein ist ja auch hier. Aber gehen wir weiter, wir blockieren die Allee.« Nach einigen Schritten schlug er vor, sich auf die gerade frei werdenden Stühle in der Nähe zu setzen. Die Unterhaltung verlief schleppend, behindert durch Ernas hartnäckiges Schweigen. Sie sprachen über das Wetter, über die berühmten Theaterschauspieler. Friedel fragte Rost über seine Herkunft aus.
»Es heißt, die Russen seien ausgemachte Barbaren.«
»Ja, Menschenfresser«, witzelte Rost, »der Zar beispielsweise ernährt sich nur von Menschenbraten. Jedes Dorf im heiligen Russland muss einen jungen, zarten Mann für den Tisch des Königs und seines Hofstaats liefern, der Reihe nach, einen Mann pro Tag.«
»Nur Burschen?«, erkundigte sich Friedel naiv.
»Auch Jungfrauen, einen Tag einen Jüngling, einen Tag eine Jungfrau, immer abwechselnd. An Sonn- und Feiertagen zwei pro Tag, einen Burschen und eine Jungfrau auf einmal.«
Erna prustete los. »Was verbreiten Sie hier denn für Lügenmärchen!« Alle lachten. Erna wurde mit einem Schlag redselig. Sie erzählte vom Gymnasium, beschrieb die Lehrer und einige Schülerinnen in knappen, markanten Konturen, wobei sie zum Vergnügen ihrer Zuhörer die lächerlichen Seiten eines jeden hervorhob. Ihre Schilderungen waren scharf und treffend, betonten das Groteske am Wesen der Betreffenden. Sie verlieh ihnen eine entschiedene, endgültige Gestalt, die nicht mehr zu ändern war, und lernte man den einen oder anderen später zufällig kennen, sah man ihn ausschließlich in dieser Gestalt. Nach Ernas Schilderungen konnte man Porträts zeichnen, ohne die Personen gesehen zu haben.
»Ich bin sicher, Sie haben künstlerisches Talent«, erklärte Rost, »würden Sie gern Künstlerin werden?«
»Ich weiß nicht, hab nicht darüber nachgedacht.«
»Jedenfalls erkenne ich bei Ihnen nicht das Zeug zur Gründung einer ordentlichen bürgerlichen Familie. Fortpflanzung in einem Sumpf von Langeweile, und alles aus banaler und lustloser Gewohnheit.«
In diesem Augenblick kam Vita Karsten vorüber, am Arm eines Mannes mit jungem Gesicht und grauem Haar. Sie erwiderte Rosts Gruß mit einem vieldeutigen Lächeln, als hüteten sie ein gemeinsames Geheimnis.
»Das ist ja die Tänzerin Vita Karsten!«, bemerkte Friedel. »Sie kennen sie persönlich?«
»Was denn sonst? Wir haben uns vor einiger Zeit kennengelernt.«
Erna begleitete die Karsten lange mit Blicken, maß ihre aufrechte Gestalt, ihren geschmeidigen, trommelnden Gang, ihr schmeichelndes, trügerisches Gehabe. Sie verspürte Feindseligkeit gegenüber dieser Frau, ohne klaren Grund.
»Sie halten sich wohl für einen großen Weisen«, sagte sie.
»Jedenfalls nicht für den schlimmsten Tor«, lachte Rost.
»Behalten Sie Ihre Weisheit für sich! Mich interessiert sie nicht.«
»Ich wollte Sie nicht verletzen.«
»Sie soll eine interessante Frau sein, diese Vita Karsten.« Friedel Kobler wusste alles, was man von diesem oder jener sagte.
»Gehen Sie bitte, Herr Rost, und holen Sie uns Schokolade. Meine Freundin Friedel mag Schokolade wahnsinnig gern.«
»Mit dem größten Vergnügen.«
Als Rost sich entfernt hatte, bemerkte Friedel: »Ein angenehmer Mensch.«
»Höchst unsympathisch!«
»Übertreib nicht, Erna, in deinen Augen sind alle unsympathisch.«
Rost kam mit zwei Schokoladentafeln Marke Gala Peter zurück. Friedel zog die Papierhülle ab und begann sofort hingebungsvoll zu knabbern. Nichts sonst interessierte sie mehr in diesem Augenblick. Erna hielt die Schokoladentafel eingepackt in der Hand, wie einen Gegenstand, der gar nicht zum Verzehr bestimmt war. Ihr Blick ging nach vorn, über die Köpfe der gegenüber Sitzenden hinweg zum Blumenrondell dahinter, das größtenteils schon im Schatten lag. Nur ein Stückchen hatte noch Sonne. Der Tag
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