Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
mit aller Macht festzuhalten, und ihre übertrieben jugendfrischen Gebärden und Lachausbrüche wirkten unnatürlich bis lächerlich. Sie durfte keine Ermüdungserscheinungen zeigen,und wenn mal jemand in ihrer Anwesenheit über Müdigkeit klagte, platzte sie sofort heraus: »Ich bin nie müde! Dieses Alter habe ich noch nicht erreicht, Gott sei Dank!« Und alle dachten in dem Moment: »Alte Schachtel!«
Ihr Ehemann Heinrich Kobler sah sie jedoch in den frühen Morgenstunden beim Aufwachen, faltig und zerdrückt, ohne die Rüstung der Kosmetika und der Kleider nach der neuesten Mode, und hielt sich eine kleine blonde Geliebte, die ihn ein paar Hundert Kronen pro Monat kostete und drei Nachmittage in der Woche mit ihm verbrachte. An den anderen Werktagen liebte er seine Frau, und sie führten ein ruhiges Leben. Er pflegte immer zu sagen: »Meine Emmi, die einer aristokratischen Familie entstammt …«, bis er es im Lauf der Zeit selber zu glauben begann. Er vermied weitestmöglich die Gesellschaft von Juden und pflegte nur Umgang mit Nichtjuden, vornehmlich mit solchen, die einen Titel hatten. Diesen sprach er mit besonderer Betonung aus, was etwas von Unterwürfigkeit und Dankbarkeit an sich hatte, von dem Stolz, als einer der Ihren unter ihnen zu weilen. Er spendete großzügig für christliche Einrichtungen, besonders für jene, mit denen man sich Berühmtheit erwerben konnte. Doch seine engen Freunde und Geldempfänger sagten hinter seinem Rücken: »Dieser gemeine Jude.«
Außer Friedel hatten sie noch einen Sohn von zwölf Jahren, Johann Wolfgang – nach Goethe, denn Heinrich Kobler liebte die klassische Dichtung und Goethe insbesondere. Durch diese Namensgebung wollte er einerseits den Dichterfürsten ehren, andererseits jedoch auch insgeheim das Schicksal übertölpeln: Vielleicht würde der Name ja etwas bewirken. Aber Johann Wolfgang Kobler richtete sich keineswegs nach den geheimen Absichten des Vaters, sondern war ein mittelmäßiger, langweiliger Junge, der sich durch rein gar nichts auszeichnete, außer vielleicht durch seine Stupsnase und sein farbloses Haar. Nase und Haarhatte er von seiner Mutter, was seinem Vater schon als großer Vorzug galt, denn seine Familie war mit schwarzen Haaren und typisch semitischen Nasen behaftet. Johann Wolfgang stieg nur mühsam und schwerfällig von Klasse zu Klasse auf, der Körper dem Kopf voraus gewissermaßen. Johann Wolfgang Kobler glich einem Schwimmer, der mit großer Anstrengung vorwärtskommt, aber immer wieder von einer neuen Welle an den Ausgangspunkt zurückgeworfen wird. Seine Schulkameraden nannten ihn der Kürze halber Wolf, zum stillen Leidwesen des Vaters. Und noch eine Kleinigkeit bereitete dem Vater Kummer: Der Kleine freundete sich ausgerechnet mit jüdischen Jungs an, ohne dass man ihn davon abbringen konnte. Gelegentlich ließ der Vater zwar in Andeutungen und Halbsätzen seinen Unwillen über diese Freundschaften durchblicken, ohne aber den Grund klar und eindeutig erklären zu können.
Erna kam nach dem Abendessen ins Kobler’sche Haus. Die Eltern waren ausgegangen, wie an den meisten Abenden der Woche außer donnerstags, dem Abend, an dem sie Gäste empfingen. Die jungen Leute begrüßten Erna mit Freudenschreien. Sie saßen im Salon, und Karl Greiner spielte Klavier. Ohne abzusetzen, streckte er ihr die Rechte entgegen und wandte ihr das Gesicht zu. Es war ein Stück von Schubert, das er da spielte. Als er fertig war, trudelte er auf dem Drehhocker herum. Er schnappte sich einen Apfel aus dem Früchtekorb auf der nahen Anrichte und begann ihn selbstgefällig zu verspeisen. Sein etwas dreister Blick ruhte auf Erna, die in seiner Nähe saß. Sie wollte schon das Gesicht abwenden, hielt aber mittendrin inne und sah ihn spöttisch an. Dieser Bursche kam ihr nicht aufrichtig vor.
»Sie essen also gern Äpfel.«
»Ja, ich esse gern Äpfel.«
»Eine lobenswerte Eigenschaft.«
»Nicht wahr?!«
»Und Sie haben auch noch eine große Zukunft vor sich? Friedel persönlich hat es mir gesagt.«
»Ich habe auch eine große Zukunft vor mir.«
»Ich halte nichts von solchen mit großer Zukunft!« Sie verzog unwillig das Gesicht. »Einer mit Gegenwart ist mir lieber.«
Karl Greiner sprang auf und brachte sein Gesicht nah an ihres. »So, so. Mit dieser Miene möchte ich Sie malen.«
»Mich malen? Sie? Das werden Sie nicht schaffen.«
»Warum nicht?«
»Weil ich es nicht wünsche.«
»Na, wir werden noch darauf zurückkommen.« Er setzte sich
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