Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
Dienstmädchen den Kopf und küsste sie. Erna drückte MizisKopf mit Macht an ihre Brust und ließ ein Stöhnen vernehmen. »Nun, Mizi?«
»Wenn das Fräulein es unbedingt wünscht!«, kicherte sie und begann etwas wiederwillig ihre Bluse aufzuknöpfen.
»Auch das Hemd«, drängte Erna. Dann musterte sie sie von allen Seiten. Mizi war mittelgroß, etwas plump, mit starken, derben Gliedern. »Du bist breit hier«, Erna deutete auf ihre Schenkel, »anders als ich.«
Mizi kam sich deplatziert vor, wie plötzlich zur Untätigkeit verdammt, überflüssig, ohne jede Möglichkeit, sich zu zerstreuen. Mit hängenden Armen stand sie mitten im Zimmer, fleischig und ungelenk, ein kleines, verlegenes Lächeln im Gesicht. Sie war erschreckend nackt. Der ganze Raum war erfüllt von ihrer Blöße. Dann begann sie sich mit der einen Hand geistesabwesend den gewölbten Bauch zu kratzen. Grundlos nackt hatte sie jeglichen Wert verloren, ihre Bestimmung eingebüßt. Bekleidet war sie gut für allerlei Arbeiten, sogar für die Liebe, nackt taugte sie zu nichts.
Erna trat zu ihr, schlang ihr die Arme um die Taille und zog sie mit ans Bett. Beide setzten sich eng umschlungen, ohne ein Wort zu sagen. Die Stille wurde noch spürbarer durch das entschiedene Ticken des Weckers. Die beiden Frauen atmeten schwer und stoßweise. Dann kam Erna hoch und setzte sich auf Mizis Schoß. Presste sich heftig an ihre Brust, glühend am ganzen Leib. Mizi fing an, sie an Bauch und Schenkeln zu streicheln, mit ihren derben, von grober Arbeit rauen Händen.
»So, so macht er’s mit dir?«, flüsterte Erna und drückte sich noch fester an sie.
Mizi sprang abrupt auf. »Die gnädige Frau kann jeden Augenblick zurückkommen. Ich muss hier weg.« Wie durch einen Schleier sah Erna sie ihre Kleider zusammenraffen und aus dem Zimmer schlüpfen. Eine Weile noch blieb sie reglos auf dem Bett sitzen. Mizi hatte einen Strumpf aufdem Stuhl vergessen. Die Stille umhüllte sie wie etwas Reales. Das Herz pochte zum Zerspringen. Der glühende Körper verlangte nach irgendwas. Mutter ist nicht zurück, und er ist nicht zurück. Auch er nicht. Aber Vater wird zurückkommen. In drei Tagen. Die Hausaufgaben für morgen sind nicht gemacht. Lehrer Stark wird die Nase rümpfen, bis sein schütterer Schnauzer fast senkrecht sitzt. Im Volksgarten hat er nach Friedel gefragt, aber die ist gar nicht hübsch, die Friedel Kobler. Trotzdem geht sie mit Willi Martin aus der 11. Klasse. Vielleicht hat er sie auch geküsst. Ihr gefällt er überhaupt nicht mit seinem Pickelgesicht, seiner rauen, gequetschten Stimme und seinen winzigen Mäuseaugen. Ein uninteressanter Bursche. Aber er? Er ist doch zweifellos widerlich, und hochmütig. Aber hässlich ist er nicht. Und sie, Erna, ist nichts als ein dummes, kleines Mädchen, und deshalb macht er sich sicher über sie lustig. Heute hat sie sich benommen wie … wie ein kleines Kind, wie eine Erstklässlerin. Er wird sie sicher auslachen. Sie wird nicht mehr mit ihm sprechen. Was geht er sie an! Sie verabscheut ihn mit aller Macht.
Wenn er sie jetzt so sähe, wie sie war? Eine Welle der Scham überlief sie mit einem Schlag. Unwillkürlich machte sie eine leere Handbewegung, als wolle sie sich bedecken. Dann stand sie auf und trat an den Spiegel. Zerzauste ihre Haare und kämmte sie so sorgfältig, als wollte sie sich für jemanden schön machen. Die Locken fielen ihr den halben Rücken hinunter und knisterten leise bei der Berührung mit dem Kamm, wie trockene Spreu, die Feuer fängt. Draußen fuhr eine Kutsche vorüber und weiter in die Nacht hinein. Der Riss in der Stille schloss sich wieder. Nur das Ticken des Weckers klang ohne Unterlass und perforierte sie mit winzigen Löchlein.
Erna fasste ihr Haar zusammen und zog es ins Gesicht. Ein schwarzer Schatten auf dem Weiß des Halses und derBrust. Sie führte ein Haarbüschel an Mund und Nase und witterte einen matten, undefinierbaren, entfernten Hauch von Seife. Irgendwie bekam sie unerklärliche Lust zu weinen. Dazusitzen und stumm zu weinen im nächtlichen Dunkel, nicht aus Wehmut und nicht aus Seelenschmerz, sondern einfach so, vielleicht wegen der prallen Lebensfülle, dem Verlangen nach jemand Fremdem, Unbekanntem, Geheimnisvollem, und weil sich dieses prickelnde Leben in ihrem Innern nicht mit Namen, Form und Farbe benennen ließ. Sie selbst, Erna, konnte es nicht definieren, stand ihm völlig hilflos gegenüber.
Sie meinte Schritte im Flur zu hören. Mit einem Satz sprang sie
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