Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
wie im Morast.
Erna wandte das Gesicht Fritz Anker zu, der gedankenversunken neben ihr saß, ein kleines, selbstvergessenes Lächeln um die Lippen. Seltsamerweise musste sie auf einmal an zu Hause denken, an Mutter, an Rost, und das Herz verkrampfte sich in ihrer Brust. Jetzt, heute Nacht, waren er und sie dort ungestört. Eine Woge des Hasses durchflutete sie, auf beide und besonders auf ihre Mutter. Jetzt würde etwas noch Grauenhafteres zwischen ihnen ablaufen, ohne dass sie zu Hause war. Als hätte ihre Anwesenheit dort eine Aufsicht ausüben, ihren Beziehungen Grenzen setzen, irgendwie verzögernd wirken können. Sie hatte den Drang, sofort nach Hause zu eilen, blieb aber untätig auf der Stelle sitzen. Tief drinnen spürte sie, dass es nichts nützen würde. Die Fröhlichkeit ringsum und das gelegentlich aufflackernde Lachen drangen nur von fern, wie durch einen Wandschirm, an ihre Ohren, ohne dass sie den Fluss der Unterhaltung oder den Sinn der Worte erfasste. Sie war traurig, mutlos. Das Leben stand vor ihr wie eine hohe, glatte Mauer, die nur schwer zu erklimmen und zu überwinden war. Erna war sehr jung, wusste noch nicht, dass hinter der Mauer nichts ist, das absolute Nichts. Sie wusste nicht, dass das Leben eigentlich, im Kern, die Suche ist.
»Ist er Ihr Freund, der Greiner?«, flüsterte sie Fritz Anker zu.
»Mein Freund? Das kann man nicht sagen. Ich habe keine Freunde.«
»Was halten Sie von ihm?«
»Ich weiß nicht. Er hat Eigenschaften, die mein Staunen erregen, so was wie Selbstverleugnung, weil ich sie selbst nicht habe.«
»Er ist doch ein leerer Mensch, ohne jedes Gewicht.«
»Das ist egal. Er wird Glück ernten. Er hält sich selbst für makellos und ist zufrieden. Er ist nicht weise genug, um elend zu sein.«
»Gerade darum ist er’s!«
»Er ist beherzt, weil sein Verstand ihm nicht im Wege steht. Voll faszinierender Mittelmäßigkeit, gesellig, wird gerade dieser Banalität wegen Erfolg haben. Er strahlt vor Gedankenlosigkeit.«
Erna rappelte sich von ihrem Platz auf. »Können Sie tanzen?«, wandte sie sich laut an Anker.
»Kann ich nicht.« Er lächelte hilflos und verschämt.
»Kommen Sie, ich bring’s Ihnen bei.«
»Nein, ich denke, es ist besser … das wird zu lächerlich werden.«
»So ein Trampel! Friedel, spiel was! Einen Walzer!« Sie gab Karl Greiner einen Wink und begann wie trockenes Laub mit ihm im Kreis zu wirbeln.
»Sie sind schön, Erna«, flüsterte er ihr beim Tanzen zu.
»Nicht für Sie jedenfalls.«
»Warum denn? Wollen Sie mir etwa weismachen, dieser Orang-Utan Fritz Anker gefiele Ihnen besser? Küsse tauschen kann man mit mir, nicht mit ihm.«
»Achten Sie auf die Tanzschritte! Der Rest geht Sie nichts an!« Sie löste sich aus seinen Armen, sprang zu Fritz Anker und drückte ihm zu seiner größten Verlegenheit einen flüchtigen Kuss aufs Gesicht. Dann ließ sie sich scheinbar erschöpft neben ihn aufs Sofa sinken. Ein schiefes Grinsen huschte über Greiners Gesicht.
»Gehen Sie bitte, Herr Greiner, und holen Sie mir eine Birne.«
Er reichte ihr wortlos das Stück Obst.
»Danke! Sie sind ein netter Bursche!«, sagte sie scherzhaft.
Friedel wandte sich beim Klavierspielen um und rief in den Raum: »Tanzt denn keiner?« Dann brach sie mitten im Akkord ab, der noch einen Moment in den Ohren nachklang.
Die Gesellschaft erhob sich zum Gehen, es war halb zwölf geworden. Friedel zog Erna mit, um die Gäste ein Stück Wegs zu begleiten.
Draußen wehte angenehme Kühle. Der Karlsplatz lag verlassen, still, verwunschen. An einer Seite ragte grau und streng die Kirche auf, mit ihren Zacken und Kreuzen im Silberschein des hohen Mondes. Ein saftiges, verhaltenes Sehnen, nicht nach etwas Bestimmtem, hing über diesem Platz, aber die Häuser ringsum waren erloschen, und die Bäume in seiner Mitte standen reglos und in sich gekehrt, verhießen treuen Schutz, der niemals enttäuschen würde. Erna hätte schlichtweg in Tränen ausbrechen können, und nicht mal aus übermäßiger Traurigkeit, als sie neben dem stummen Fritz Anker mit seinem täppischen, unsicheren Lächeln einherging.
In seinem unablässigen Bemühen, sich selbst zu verleugnen und die Aufmerksamkeit von sich abzulenken, erreichte er zu seinem Leidwesen immer das genaue Gegenteil, aber er konnte es nicht ändern. Er fühlte sich ständig unwohl in seiner Haut, wie von einer körperlichen Krankheit befallen, die unaufhörlich Schmerzen verursachte. Er hasste seinen langen, ungelenken Körper,
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