Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)
tiefen Abgrunds, zwei sprühende kleine Lebewesen, innig vereint. Die Stille schwebte über ihnen, hüllte sie förmlich ein, schlug Wellen im dunklen Raum, in dem ein paar verschwommene Möbelecken schwammen, rollte nach draußen in die unbeteiligte Außenwelt. Zwei junge Mädchen entdeckten sich und einander mit einem Schlag neu. Derzeit waren sie nicht mehr ihr festes, altes Selbst. Sie überschritten die Grenzen ihres Wesens, dehnten sich ins Unendliche, wurden Kraft, abstrakte, fremde, blinde Kraft, jene verborgene Kraft, die die Natur unaufhörlich zum Sein antreibt, wurden selbst Natur. Sie gingen ineinander auf. War das etwa eine verbotene Sache oder Tat? Wer könnte sich anmaßen, hier etwas verbieten oder erlauben zu wollen? Alles war Natur und nichts weiter.
Erna hatte das Gefühl, gar nicht im Bett zu liegen, die Laken zu berühren, meinte vielmehr, einen kleinen Abstand zu diesem Bett zu spüren, als schwebe sie darüber. Aber der Gedanke an zu Hause lastete ihr tief in der Seele wie ein vager Schmerz, und jetzt, da Friedel eingeschlafen war, schwemmte er hoch und nahm konkrete Form an. Sie versuchte sich vorzustellen, was eben jetzt zwischen den beiden ablief. Und ihren aufgewühlten und verwirrten Sinnen im Dunkel der Nacht erschien alles noch schlimmer und verstörender,wie in einem Alptraum. Die Untreue, seine wie ihre, war allein gegen sie, Erna, gerichtet und gegen niemand sonst.
Plötzlich wurde ihr unerträglich heiß. Sie warf die Decke ab, aber es nützte nichts. Deshalb stieg sie aus dem Bett, tappte ans Fenster und schob vorsichtig den schweren Vorhang zur Seite. Die kleine Straße lag still und verwaist im spärlichen Laternenlicht. Eine Katze schlüpfte aus dem Dunkel, hielt im Lichtbereich inne, wandte wie suchend den Kopf hin und her und ging dann ohne Hast weiter, auf leisen Pfoten schräg über die Straße. Traumhafte Unwirklichkeit lag über dem allen. Es war kühl. Ein kalter Schauder lief ihr über den Rücken, aber sie achtete nicht darauf. Die Brust aufs Fensterbrett gelegt, blickte sie ins Leere, gänzlich verlassen. Tränen rannen ihr aus den Augen, ohne dass sie es merkte. Dann klackten hohle Schritte in einer benachbarten Straße, und Erna lauschte ihnen unwillkürlich, verfolgte sie mit einer Seite ihrer Seele, bis sie verklungen waren.
Sie würde ihm einen Brief folgenden Inhalts schreiben: »Die ganze Welt ist wertlos, ihre Existenz endet dort, wo deine Existenz anfängt. Klein bin ich und dann auch wieder gar nicht klein. Ich werde dich morgens auf die Ohrläppchen küssen und auf die Augenlider und auf die Nasenspitze. Wir werden zusammen Schokolade trinken, und die Stadt wird uns zu Füßen liegen. Die Stadt werden wir gemeinsam sehr lieben. Und wir werden gemeinsam den Winter lieben, und den Sommer, und den Herbst, und ich, ich allein, liebe Mutter. Alles wird deine Liebe zu mir verkünden, die Wände, die Gegenstände, die Außenwelt, und wenn du weggehst, dann doch nur, um mich in deiner Phantasie schöner, begehrenswerter zu sehen, und um den süßen Geschmack der Rückkehr zu kosten, und ich werde mich ein bisschen mit dir streiten, um die Freude der Versöhnung zu genießen.« Nein, sie würde ihm nichts schreiben. Kein einzigesWort. Jetzt lag er doch Körper an Körper mit ihr und küsste sie, und sie lachten. Sie wollte ihn nicht. Sie würde Karl Greiner, diesem Flegel, schreiben, er dürfe ihr Porträt malen und sie küssen. Er war doch ein Meister im Küssen, dieser Greiner, das hatte er ihr persönlich gesagt. Sie brach unvermittelt in ein seltsames Lachen aus und erschrak selbst darüber. Stand angespannt da und lauschte, ob ihr Lachen jemanden geweckt hatte. Nein. Alles war so still wie zuvor, noch stiller.
10
Georg Stift ließ sich einen schütteren Schnauzer von wenigen honigfarbenen Barthaaren in seinem ovalen Gesicht stehen und rauchte dicke, kurze Kuba-Zigarren. Zufrieden war er, der Georg Stift. Die Geschäfte – Gott sei Dank! Alles in Ordnung. Das Übrige – desgleichen. Gertrud und Erna – nichts zu klagen. Und die kleine Plage, die ihm ein paar angenehme Stunden bereitet hatte, diese geschminkte Frau im Hotel Ritz in Klagenfurt – ein kurzer Zeitvertreib ohne Dauer. So was diente nur dazu, die Verbindung zwischen Mann und Frau noch mehr zu festigen. Es hatte ja schon mal jemand gesagt, dass das Familienleben ab und zu etwas durchlüftet werden musste, damit es keinen Schimmel ansetzte, hahaha. Georg Stift lehnte sich gemütlich zurück und
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