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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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gardinenverhangenen Fenstern, in dem die Soldaten verschwanden. Aus diesem Haus schallte ununterbrochen ausgelassenes Lachen, Klaviermusik, besoffenes Grölen. Gelegentlich wurde geräuschvoll die Tür aufgerissen, und Motke Kolik, ein untersetzter Mann von ungewöhnlicher Körperkraft, dem der kugelförmige Kopf ohne Hals zwischen den breiten Schultern saß, warf blitzschnell einen besoffenen Burschen hinaus, der im hohen Bogen durch die Luft flog und dumpf auf dem Pflaster landete, wo er dann wie ein schwerer Sack liegenblieb, ohne sich aufrappeln zu können. Dieser Motke war der Held des Viertels, machte gemeinsame Sache mit der Polizei und konnteerbarmungslos zuschlagen wie eine eigens dafür konstruierte Maschine, mit blinder Gewalt. Ein paar Jahre später, während der Pogrome, wurde er erstochen, aber erst nachdem er ein Blutbad unter den Schlägern angerichtet und wohl ein rundes Dutzend von ihnen umgelegt hatte.
    Gelegentlich wurde in einem Obergeschoss kurz ein Fenster aufgerissen, und eine junge Frau mit nackten Armen und Brüsten steckte den Kopf heraus, blickte suchend nach rechts und links, ließ eine brennende Zigarettenkippe fallen und machte das Fenster gleich wieder zu. »Die Pensionstöchter«, wie sie im Viertel genannt wurden, verströmten billigen Parfümgeruch, der nach ihrem Vorbeigehen noch eine Weile fremd und unangenehm in der Luft hing, ohne sich mit dem unaufdringlichen Sommerduft zu verbinden, ein Grund für die anständigen Frauen, die Nase zu rümpfen.
    Diese Bilder erstanden jetzt zersetzt und bunt durcheinander vor Rost Augen, einander verdrängend, aber durchaus klar, alle gleichzeitig gewissermaßen, wie auf einer riesigen Leinwand. Dieser Offizier hier neben ihm, mit den ernsthaften Zügen und den trübseligen Augen – wäre er dort gewesen, wäre er sicher auch wie die anderen Offiziere hinter den Rockzipfeln der hübschen jüdischen Mädchen her gewesen. Doch später, zu gegebener Zeit, hätte er aufgrund eben seiner unverbrüchlichen Härte seinen Soldaten ohne jedes Zögern befohlen, auf ihre Eltern und Geschwister zu schießen, ja sogar auf die Mädchen selbst.
    Rost vereinbarte mit Dean, ihn in drei Tagen anzurufen, und ging mit dem Offizier weg. Der Regen hatte inzwischen aufgehört. Die Luft war feuchtkalt unter dem grauen Himmel. Das Pflaster glänzte. Der Offizier schritt schweigend neben ihm her. Dann hielt er einen Fiaker an und nannte dem Kutscher ein Kaffeehaus am Ring.
    Dort saß Rost dem Offizier gegenüber, nippte an seiner dampfenden Schokolade und warf ihm hin und wieder einen verstohlenen Blick zu. An diesem regnerischen Tag war das Kaffeehaus gut besetzt mit buntem, sonntäglichem Publikum, gesprenkelt mit ehrbaren Glatzköpfen, hochrangigen Militärs, schönen und weniger schönen Frauen. Prächtige Kutschen und Automobile hielten alle Augenblicke vor dem geschmückten Tor und spuckten neue Gäste aus. Die meisten Gesichter zeigten echte oder gespielte Zufriedenheit, jeder war offenbar froh, auf der Welt zu sein und hier, in diesem Café, umwabert von Rauchkringeln und einem Schwall verschiedener Parfüme.
    Nun begann Felix von Brunnhof: »Die Gläubigen, die haben noch was, eine Art Reserveleben, ewige Werte gewissermaßen. Und wenn sie sich nur was vormachen – das ist auch egal. Aber die anderen, die nur dies hier haben?!« Er machte eine ausladende Geste Richtung Saal.
    »Genügt das denn nicht?«, fragte Rost. »Was braucht man mehr? Ich finde das Leben gut so, ohne das Unergründliche zu erforschen.« Und nach kurzer Pause: »Sie sind ja noch nicht alt, Herr von Brunnhof.«
    »Ich bin noch nicht alt«, wiederholte der Offizier geistesabwesend, »aber sehen Sie, es kann sein, dass jemand acht oder zehn Jahre einen bestimmten Weg beschreitet, den er vielleicht gar nicht selbst gewählt, eher zufällig eingeschlagen hat, bedingt durch die Umstände, durch die Familientradition oder Ähnliches, und den er dann weitergeht. Und auf einmal merkt er, dass es der falsche Weg ist, zu einem Ort, an dem er nicht landen möchte. Aber das ist noch nicht das Wichtigste. Das Wichtigste ist, dass er jetzt, da er seinen Fehler erkennt, die nutzlos vergeudete Zeit, keinen anderen Weg weiß, den er einschlagen könnte. Hätte er früher freie Wahl gehabt, wüsste er jetzt vielleicht weiter, aber jetzt weiß er es nicht mehr.« Die ganze Zeit schien er mehrzu sich selbst als zu Rost zu sprechen. Jetzt hielt er ihm eine Zigarettenschachtel hin und zündete sich auch selbst

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