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Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition)

Titel: Eine Wiener Romanze: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Vogel
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heimwärts führte. Dort hatte er noch nicht mal den Morgenrock übergezogen, als es zögernd an seiner Tür klopfte und Gertrud eintrat. Ohne ein Wort drückte sie Rost ihren vollen, feuchten Mund auf die Lippen, presste sich mit ihrem ganzen, lodernden Körper so fest an ihn, als wolle sie in ihn dringen. Dann sank sie erschöpft auf einen Stuhl. Sie wirkte etwas niedergeschlagen.
    »Ich habe auf dich gewartet«, sagte sie nach einer Weile, »Georg ist mit Erna zur Schwiegermutter gegangen. Ich habe mich unter dem Vorwand von Kopfweh gedrückt.«
    Rost zog einen Stuhl heran und setzte sich zu ihr. Nahm ihre Hand und streichelte sie ein paarmal beschwichtigend. Die trübe Außenwelt lugte durch die Fenster, deren schwere Vorhänge beiseitegeschoben waren und über den Fensterbänken von Kordeln gehalten wurden. Tiefes Schweigen lastete im ganzen Haus. Von der kleinen Straße drang kein Laut herein. Gertrud saß reglos, in Gedanken versunken. Die Schöße ihres zitronengelben Kimonos waren zur Seite gerutscht und entblößten schneeweiße Schenkel zwischen Strümpfen und Unterhose. Den Kopf leicht schräggelegt, blickte sie in die Ferne, über Rost hinaus. Mit Grauen dachte sie an die Überfälle ihres Mannes die Nacht zuvor, die sie nur mit Mühe hatte abwehren können. Aber würde sie sich denn immer so entziehen können, ohne Verdacht zu erregen? Ohne Handgreiflichkeiten, Reibereien auszulösen? Wäre sie nur kühler, weniger empfindlich für seine schweren, ungelenken, plumpen Bewegungen, die sie so hasste. Plötzlich kam ihr blitzartig der Gedanke, sie könnte Rost verlieren, und ein Schauder lief ihr über den Rücken. Warum denn nicht? Er konnte mit einem vernichtenden Handstreich verschwinden, eine böse Überraschung, und dannwäre sie gänzlich verloren. Mit einem Schlag erschien ihr alles traumhaft, unwirklich. Sie hob die Augen zu Rost, als wolle sie sich vergewissern, dass er noch da war, mit Leib und Blut. In ihren Augen lag tiefe Trauer. Sie streckte die Hand aus und betastete seinen Arm. Ja, er ist hier, noch hier. Zwei Tränen stiegen ihr in die Augen, weil er hier war, bei ihr, und wegen der grauenhaften Möglichkeit, ihn zu verlieren, ohne eigene Schuld, einfach so, auf natürliche Weise. Im selben Moment spürte sie die verzehrende Einsamkeit, die da kommen würde. Die Tränen lösten sich aus den Augen und rannen ihr über die Wangen, ohne dass sie es merkte.
    »Warum?«, fragte Rost teilnahmsvoll. Nun lächelte sie sanft, zögernd, stand geistesabwesend auf, tat einen Schritt zum Fenster, machte wieder kehrt und setzte sich auf ihren Platz. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich schlagartig, ließ einen festen Entschluss erkennen, trotz der Tränenspuren, die ihr noch die Wangen nässten. Nein! Sie würde nicht aufgeben! Sie würde kämpfen! Sie zog Rost an sich und umarmte ihn so heftig, dass die Rippen knackten, voll verzweifeltem Verlangen, wie ein Selbstmörder.
    »Was denn?«, flüsterte sie ihm zu. »Der gegenwärtige Moment, ist nicht alles in ihm enthalten? Sag, ist das nicht die Wahrheit?« Sie schob seinen Kopf ein wenig zurück und betrachtete ihn, als wolle sie sich seine Gesichtszüge unverwischbar einprägen.
    »Du bist eine erwachsene Frau, und du bist ein kleines Baby«, sagte Rost. Es tat ihm leid um sie, ohne bestimmten Grund. Er setzte sie auf seinen Schoß und strich ihr übers Haar, das einen feinen, dezenten, leicht verblüffenden Duft abgab. Dann drückte er seine Nase hinein und atmete diesen besonderen Duft nach Frau und dem ganzen Universum. Er roch den Duft der Erde. So erneuerte sich unaufhörlich das Schöpfungswerk durch den ewigen Adam und die ewige Eva, durch ihn selbst, Michael Rost, und durch diese Frau,die sich immer fremd und immer nah waren, einander abstießen und wieder anzogen. Ihre glatte, glühende Haut bebte unter seiner Berührung, als wolle sie sich ihr entziehen. Sie drückte ihm heiße Küsse auf Genick, Wange, Ohrläppchen, in wildem Rausch, bis er sie aufhob und auf den Armen zum Sofa trug.
    Mittlerweile verdunkelten sich die Fenster, weil ein früher Abend einzog, und leichte Regentropfen schlugen wieder an die Scheiben wie einzelne kleine Fliegen. Der Regen klimperte einen eigenen, unverwechselbaren Ton auf der Stille, die im ganzen Haus herrschte. Rost lag rücklings auf dem Sofa und rauchte. Die glimmende Zigarette blinkte wie ein Irrlicht im wachsenden Dunkel. Man sah keine Gesichtszüge mehr, weder seine noch ihre, und auch keine Hände, nur

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